Kurz nachgedacht…

Das achte Gebot – Du sollst nicht lügen (oder vielleicht doch?)

Symbolbild (Foto: Anna Schüßler)

Stell dir vor, du warst beim Frisör, kommst erwartungsvoll mit neuem Style nach Hause und…

… dein Partner schaut dich an, denkt, welcher Rasenmäher hat meine Freundin erwischt und sagt, „hübsch siehst du aus“, nur um dich nicht zu enttäuschen …
… dein Partner bemerkt „die Frisur vorher hat dir viel besser gestanden“
… dein Partner schaut dich an und sagt… NICHTS …

Welche Reaktion wünschst du dir von dem Mann an deiner Seite, den das Ergebnis deines Frisörbesuches nicht begeistert?

Möchten wir immer die Wahrheit hören? Sollen wir immer die Wahrheit sagen? Hatten wir nicht schon als Kind im Religionsunterricht gehört, dass das achte Gebot lautet: Du sollst nicht lügen!?

Es ist lange her, als ich von einer älteren Freundin eingeladen worden war. Sie hatte wenige Jahre zuvor in Italien die Liebe ihres Lebens gefunden und war in die Toskana gezogen. So flog ich in einem September mit einem Billigflieger (damals noch ohne schlechtes Gewissen) nach Pisa, wo ich von ihr und ihrem italienischen Lebensgefährten Gio* freudvoll abgeholt wurde. Beide verwöhnten mich, mir wurden schöne Orte gezeigt und als Highlight stand eine Bahnfahrt nach Florenz an. Der Himmel war bedeckt, die Temperaturen waren gesunken und so fehlte mir eine wärmende Jacke. Sofort nahm mich Gio mit zum Kleiderschrank, reichte mir einen Mantel seiner verstorbenen Frau und schaute mich fragend an: Ist dir dieser Mantel recht? Bereits als er den Schrank geöffnet hatte, kam mir ein Schwall an Mottenkugelgeruch entgegen und ich hätte gerne abgelehnt. Den nach Mottenkugelgeruch stinkende Mantel seiner verstorbenen Frau anzuziehen, löste großes Unbehagen in mir aus. Doch was tun? Es war kalt und ich hatte nur diese Option. Zudem wollte ich ihn nicht verletzen. Und so nahm ich Gios Angebot dankend an, meine wahren Gedanken und Gefühle verleugnend. Man könnte mein Verhalten auch als nicht authentisch bezeichnen. Am Bahnhof zur Abfahrt dann angekommen, stellte ich mich neben eine Frau, die sich sofort naserümpfend von mir abwandte und einen anderen Platz suchte. Ich schämte mich. Erst gegen Mittag spitzte die Sonne durch die Wolken. Endlich konnte ich den Mantel ausziehen und über dem Arm tragen. Zudem war der heftige Geruch mittlerweile abgemildert.

Ich erlebte vier wundervolle Tage in der Toskana und zum Abschied überraschte mich Gio mit einem ganz besonderen Menü, dessen Zutaten er zuvor eingekauft hatte. Er liebte das Kochen. Und da ihm ein einfaches Pastagericht nicht genug für meinen Abschied schien, servierte er Tintenfisch. Den Gourmets unter uns läuft wahrscheinlich das Wasser im Mund zusammen, ich jedoch kaute und kaute und bemerkte, dass das Volumen an Fisch in meinem Mund nur sehr langsam abnahm. Aber ich blieb freundlich, lobte den Koch und dachte mir insgeheim, dass dieser Teller irgendwann leer sein würde. So machte sich Erleichterung in mir breit, als ich den Fisch aufgegessen hatte. Doch weil ich Gio zuvor zu verstehen gegeben hatte, dass ich sein Überraschungsmenü sehr mochte, gab es direkt einen Nachschlag noch bevor ich überhaupt hätte andeuten können, dass ich gesättigt war. Mir widerstand der Fisch, aber ich kaute tapfer weiter. Was hätte meine Wahrheit ausgelöst? Ich hätte zwei Menschen sehr enttäuscht, wenn ich von Anfang an ehrlich gewesen wäre und den Verzehr des liebevoll zubereiteten Fisches abgelehnt hätte.

Und meine Gedanken gehen noch weiter in die Vergangenheit. Ich denke an einen Verehrer in jungen Jahren, der mein Herz mittels eines selbst zubereiteten Menüs erobern wollte. Als Naturliebhaber erntete er zuvor frischen Löwenzahn, um daraus einen leckeren Salat zuzubereiten. Löwenzahn ist gesund und BITTER und da auch dem selbst kreierten Dressing jegliche Süße fehlte, kam bitter auf bitter und alle Verdauungssäfte in meinem Mund zogen sich zurück. Dem erwartungsvollen Blick des Gastgebers auf seine Frage „schmeckt es dir?“ entgegnete ich ein „ja, sehr lecker“ und nutzte einen kurzen Moment dazu, den Salat ganz schnell in meine Stiefel zu stopfen, als mein Verehrer kurz in der Küche verschwand – so groß war meine Not! Ja, ekelig und verrückt, aber meine Rettung! Einen kulinarischen Nachschlag lehnte ich immerhin dankend ab.

Situationen über Situationen, aus denen wir uns mittels kleinerer oder größerer Lügen herausmogeln. Viele Politiker enttäuschen regelmäßig, wenn sie Wahlversprechen nicht einhalten und verlieren das Vertrauen ihrer Wähler. Mitarbeiter von Unternehmen trinken einen über den Durst und lassen sich am Folgetag „krank schreiben“, weil es ihnen nicht gut geht. Betrügt eine Frau ihren Mann (oder umgekehrt), verschweigt ein Kind die 5 in Mathe, prahlt jemand damit, mehr zu haben als er hat oder mehr zu sein als er ist – letztendlich steckt zumeist auch immer eine Angst hinter einer Lüge: die Angst vor den Reaktionen des/r Partners*in, vor den Eltern oder die Angst davor, von Anderen nicht anerkannt oder nicht bewundert zu werden. Zu dieser Angst gesellt sich eine weitere Angst, nämlich die Angst, beim Lügen ertappt zu werden. Je öfters ein Mensch lügt, umso mehr verstrickt er sich in sein Lügennetz und es wird immer schwerer, den Weg hinauszufinden, ohne dabei ertappt zu werden.

Eine andere Dimension der Lüge kommt zum Tragen, wenn ein Täter sein Verbrechen leugnet, um einer Strafe zu entgehen. Der Angst, dass sein Lügengebilde irgendwann „auffliegt“, wird er nicht entrinnen. Ein Lügner belügt in erster Linie erst einmal sich selber, bevor er seine Mitmenschen mit der Lüge konfrontiert.

Wann ist eine Lüge gerechtfertigt? Gibt es Situationen, die die Unwahrheit nicht nur rechtfertigen, sondern in denen die Lüge sogar Leben rettet oder rettete? Im zweiten Weltkrieg unter dem NS-Regime riskierten Menschen ihr eigenes Leben und das ihrer Familienmitglieder, um Juden ein Versteck zu gewähren und sie dadurch vor einem Transport in ein Konzentrationslager zu bewahren. Hätte Gott zur Einhaltung des achten Gebotes von ihnen erwartet, dass sie das Versteck ihrer heimlichen Gäste verraten und diese damit dem sicheren Tod ausliefern? Aus meiner Sicht wäre diese Art der Auslegung des achten Gebotes fehlinterpretiert.

Es scheint, als ob die Lüge im täglichen Miteinander etabliert ist und sehr leichtfertig damit umgegangen wird. Wann ist also eine Lüge gerechtfertigt? Vielleicht ist die Absicht des Lügenden dahinter maßgeblich. Lügen, die Menschenleben retteten, Schaden abwenden oder Lügen, die Mitmenschen vor seelischer Verletzung bewahren, sind wie ein Gebot der Höflichkeit und Mitmenschlichkeit. So sind die kleinen Lügen gesellschaftlich schon nahezu unentbehrlich, denn die Wahrheit kann einerseits sehr grob und verletzend sein und eine gutgemeinte Lüge andererseits Gutes bewirken.

Tief in uns drinnen sehnen wir uns aber andererseits auch nach der Wahrheit und nach wahrhaftigen Menschen in unserem Leben. Denn einem wahrhaftigen Menschen können wir unser Vertrauen schenken, ihn um Rat fragen und auch einmal ein Geheimnis anvertrauen. Ihm verzeihen wir auch, wenn er eine Wahrheit ausspricht, die zwar wehtut, uns aber weiterbringt, uns neue Perspektiven erkennen lässt und Impulse schenkt, Verhaltensweisen zu ändern. Wir brauchen ehrliche Menschen als Reflektion.

Angesichts der Zeiten, in denen wir täglich mit Fake News über die sozialen Medien konfrontiert werden, die es uns fast unmöglich machen, die Wahrheit überhaupt noch herauszufinden, sollte das achte der zehn Gebote als christlicher Wert zum Nachdenken und im täglichen Miteinander zum Reflektieren anregen.

 

*Name wurde geändert

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