„Die Lage ist wirklich ernst“

Engpässe bei der Medikamentenversorgung: Die Lage im St. Wendeler Land

apotheken

Die Medikamentenversorgung in Deutschland steht vor einem wachsenden Problem: Immer häufiger kommt es zu Engpässen bei der Versorgung mit Arzneimitteln. Gleichzeitig müssen immer mehr Apotheken schließen. Diese Entwicklung hat gravierende Auswirkungen auf die Gesundheit der Bevölkerung und stellt eine ernsthafte Herausforderung für das Gesundheitswesen dar. Natürlich machen diese Entwicklungen auch vor dem St. Wendeler Land nicht Halt. Besonders das RS Virus, das zurzeit bei vielen Kindern im Umlauf ist und zu hohem Fieber führt, macht Eltern große Sorgen. Fiebersenkende Paracetamol- und Ibuprophensäfte sind nur noch schwer erhältlich. Wie konnte es soweit kommen? Mehrere Apotheken aus dem Landkreis St. Wendel melden sich zu Wort und geben die Hauptgründe für diese schwierige Lage sowie ihre Forderungen an Politik und Gesellschaft an.

„Die Lage ist wirklich ernst“ – Lieferengpässe bei Fiebersenkenden Säften

„Die Lage ist wirklich ernst. Noch nie war so wenig lieferbar wie aktuell“, gibt die Apothekerin Vanessa Jung, die die Johannis Apotheke in Marpingen betreibt, zu bedenken. Es gibt deutliche Engpässe bei der Versorgung mit Paracetamol und ibuprofenhaltigen Arzneimitteln seit Mitte des Jahres 2022.

Apotheken berichten, dass sie immer wieder kleinere Mengen geliefert bekommen, die aber nicht einmal den Wochenbedarf decken. Die Nachfrage ist aufgrund einer hohen Anzahl an kranken, erkälteten Kindern deutlich gestiegen. „Wenn man im Notdienst steht und die verzweifelten Eltern eines Kindes kommen, da das Kind hohes Fieber hat und man muss den Eltern sagen, dass leider momentan kein Fiebersaft lieferbar ist, das ist furchtbar“, berichtet Jung. Um sich von den Engpässen unabhängig zu machen, hat sich die Johannis Apotheke zu Beginn des Jahres entschieden fiebersenkende Säfte selbst herzustellen. Die Nachfrage sei sehr hoch, die Resonanz „riesig“. Andere Apotheken hingegen können es gar nicht leisten, selbst mit der Produktion dieser Medikamente zu beginnen. Maike Schwan von der Glocken Apotheke in Namborn berichtet, dass Selbstherstellung kaum möglich sei, da der Zeitaufwand enorm sei und die Kosten nicht von den Krankenkassen getragen werden. Dass man sich an der Produktion von Säften „keine goldene Nase“ verdient, bestätigt auch Jung.

Auch die Wendalinus Apotheke in St. Wendel verzeichnet Lieferengpässe bei Fiebersäften. Paracetamolsaft sei dort derzeit gar nicht verfügbar, Ibusaft nur noch in geringen Mengen. „Bestellungen über den pharmazeutischen Großhandel sind aussichtslos“, sagt Sören Schwarzbeck von der Alte Apotheke in St. Wendel. Da sich diese in der Nähe von Kinderarztpraxen befindet, hat sie jedoch größere Vorräte an fiebersenkenden Mitteln, „welche momentan noch für etwa zwei Monate reichen und somit jedes Kind versorgt werden kann“, erläutert Schwarzbeck. Eine Eigenproduktion sei daher noch nicht erforderlich gewesen. „Erschwert wird die Herstellung allerdings zusätzlich durch den Mangel an Ausgangsstoffen und Packmitteln, durch einen generellen Personalmangel in den Apotheken sowie durch einen hohen Krankenstand.“

Lieferengpässe: jegliche Bereiche sind betroffen

Medikamentenschrank

„…die Liste ist endlos. Allein über 200 Medikamente, die wir sonst auf Lager haben, sind betroffen“, berichtet Jung. Andere Apotheken bestätigen diese Aussage. Es gebe Lieferengpässe bei einer Vielzahl von Arzneimitteln, die von Woche zu Woche weiter zunehmen, derzeit stehen auf der sogenannten Defektliste der Alte Apotheke rund 150 Positionen. Dazu gehören gängige rezeptfreie Medikamente wie Erkältungsmittel, Hustenmittel, Blutdruckmedikamente, Cholesterinsenker, Antibiotika, Antidepressiva und Magensäureblocker. In einigen Fällen können die Apotheken auf andere Hersteller ausweichen, jedoch müssen Patienten in manchen Fällen durch den behandelnden Arzt auf ein anderes, aber therapeutisch gleichwertiges Medikament umgestellt werden. „Eine Mitarbeiterin kümmert sich täglich fast ausschließlich um die Beschaffung der schlecht verfügbaren Arzneimittel. Sie steht dann für andere Aufgaben nur eingeschränkt zur Verfügung. Ein erhöhter Aufwand, den uns natürlich niemand vergütet. Aber bei uns bleibt kein Patient unversorgt“, versichert Schwarzbeck.

Die Gründe für die Engpässe sind vielfältig, haben jedoch in der Regel mit der Tatsache zu tun, dass bei gängigen, patentfreien Arzneimitteln (Generika) von den Krankenkassen nur die günstigsten Anbieter berücksichtigt werden, die dann in Ländern wie Indien oder China produzieren lassen müssen, um Gewinne zu erzielen. „Das Problem bei den Fiebersäften: Vor wenigen Jahren gab es noch 10-15 Anbieter für Paracetamol-Säfte, heute sind es genau zwei, die restlichen haben die Herstellung aus wirtschaftlichen Gründen eingestellt. Steigt der Bedarf wie in der aktuellen Krankheitswelle aus Atemwegsinfekten (Corona, Grippe, RSV, andere grippale Infekte), können die Hersteller nicht schnell genug nachproduzieren“, erklärt Schwarzbeck den Grund für die aktuelle Situation. Dies bestätigt auch Maike Schwan und ergänzt: „Ein Faktor, warum Firmen so auf den Gewinn schauen müssen ist natürlich die Rabattvertragspolitik. Ein System, das nur mit niedrigsten Gewinnmargen funktioniert. Trotzdem steigen Ausgaben der Krankenkassen. Dies liegt an der gestiegenen Bürokratie und natürlich an den neuen Arzneimittel, z.B. Zytostatika, bei denen eine Behandlung in die Tausender geht. Aber die Ausgaben für die breite Masse steigt in den letzten Jahren kaum. Zumal das System schon dadurch finanziert wird, da Apotheken schon 20% ihres Gewinnes abgeben müssen!“

Und schon folgt das nächste Problem: Apothekensterben.

„Nach einer aktuellen Statistik der Apothekerkammer des Saarlandes sind 35% der 221 Apothekenleiter (die momentan noch 273 Apotheken führen) im Saarland über 60 Jahre alt, weitere 28% sind über 50 Jahre alt. Was das für die nächsten Jahre erwarten lässt, kann man sich ausmalen“, gibt Schwarzbeck zu bedenken. Warum sind Apotheken keine attraktiven Arbeitsplätze mehr? „Fehlende Honorierung, zu viel Bürokratie, Personalmangel“, antwortet Jung darauf. „Seit Jahren gab es keine Anpassung der Vergütung für rezeptpflichtige Medikamente und das obwohl andere Kosten (Personalkosten, Energiepreise, Inflation etc.) stetig steigen.“ Noch dazu werde durch die Politik und neu beschlossene Gesetze immer weiter Druck auf die Apotheken ausgeübt: Ab Februar müssen ein Jahr lang höhere Abschläge an die Krankenkassen bezahlt werden. „20 Cent pro Medikament. Wenn man das natürlich hochrechnet auf Packungen, die im Jahr abgegeben werden, dann ist das schon eine immense Summe.“

„Junge Pharmaziestudenten wollen nicht mehr in die Apotheke, zumal die Industrie ja viel mehr bezahlen kann. Dann kommt es noch hinzu: Es muss immer ein Approbierter Apotheker anwesend sein. Sprich für mich als Selbständige ist es nicht möglich mal einfach so in Urlaub zu fahren. Wenn ich krank bin kann ich die Apotheke schließen, oder muss mit Fieber vor Ort sein“, erklärt Schwan.

Die Folge: „Niemand hat Lust darauf eine Apotheke zu übernehmen. Und die Apotheken müssen schließen. Auch die Idealistischen Apotheker werden immer mehr auf die Probe gestellt. Uns wird viel abverlangt, wir bekommen keine Vergütung und sind diejenigen, die vorne an der „Front“ alles abbekommen.“

Das fordern die Apotheken im St. Wendeler Land von der Politik

Apotheke, Beratung, Kunden

„1. Es muss wieder mehr in Deutschland produziert werden. Wir müssen uns unabhängig von der Produktion in China, Indien etc. machen und wieder zu fairen Preisen in Deutschland produzieren können.

2. Apothekenhonorare müssen endlich erhöht werden. Um Nachwuchs zu rekrutieren muss man als Arbeitgeber in der Lage sein, eine attraktive Stelle anzubieten, sowohl finanziell als auch vom Arbeitsalltag. Bürokratische Vorgaben durch die Krankenkassen müssen abgebaut werden, damit man in der Apotheke wieder hauptsächlich mit Leidenschaft das tun kann, wofür der Beruf angedacht ist: Den Patienten ausführlich zu beraten und bestmöglich zu versorgen“, fordert Jung.

Schwarzbeck fordert eine Entscheidung: „Ist es gewünscht, das bisherige, funktionierende System der wohnortnahen, niedrigschwelligen Versorgung mit Arzneimitteln abzuschaffen, müssen die Entscheider nur den eingeschlagenen Kurs beibehalten, und nur ein Bruchteil der Apotheken, wie wir sie heute kennen, wird die nächsten zehn Jahre überleben.

Ist es gewünscht, das System zu erhalten und weiterzuentwickeln, muss es finanziell und organisatorisch gestützt werden. Niemand kann von uns verlangen, langfristig mit einer Basisvergütung aus 2012 zu wirtschaften.

Dazu muss den Apothekern endlich zugehört werden.

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