Bischof Stephan Ackermann im Interview: „Die Landschaft des Glaubens hat sich dramatisch verändert“

Bischof Dr. Stephan Ackermann

Über die Osterfeiertage widmet sich wndn.de dem christlichen Glauben in einer Interviewserie mit dem Trierer Bischof  Stephan Ackermann. In Teil 1 spricht er mit unserem Redakteur Christian Funck über die Erosion und Bedeutung des Glaubens.

wndn.de: Herr Bischof, Sie haben Ende des vergangenen Jahres von einer Erosion des Glaubens gesprochen. Was meinen Sie denn damit?

Bischof Stephan Ackermann: Wir erleben, dass sich die Landschaft des Glaubens – so wie wir sie vor allen Dingen vor Ort in den Pfarreien kennen – dramatisch verändert. Auf der einen Seite wird der Glaube zwar noch in den bekannten Formen gelebt, auch gemeinschaftlich in Pfarreien, in den Gruppen, Vereinen, Verbänden – etwa im St. Wendeler Raum. Auf der anderen Seite spüren wir auch eine starke Veränderung: Leute distanzieren sich von der sichtbaren Gemeinschaft des Glaubens, der Kirche.

Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe dafür?

Letztlich geht es dabei um die Frage nach Gott und nicht nur um die Frage, ob ich Mitglied in einer Kirche sein will. Es geht um die Frage: „Spielt der Glaube an Gott in meinem Leben eine existentielle Rolle?“. Wenn die Antwort „Nein“ ist, dann fragt man sich natürlich: „Brauche ich Kirche überhaupt? Wofür gibt es die Kirche?“. Die Kirche wird dann im besten Fall als eine Einrichtung gesehen, die sozial Gutes tut. Aber wenn sie mich stört, distanziere ich mich auch schnell von ihr.

Die Dramatik der Veränderung liegt darin, dass wir in einer Gesellschaft des Wohlstands, der Sicherheit, der Freiheit und der Individualität leben, in der jeder sein eigenes Lebensprojekt in die Hand nimmt, und das ist ja grundsätzlich etwas sehr Positives. Zu diesem persönlichen Lebensprojekt gehört auch die Frage des Glaubens. Das unterscheidet sich stark davon, wie es früher war, als der Glaube quasi weitervererbt wurde. Natürlich gab es immer Leute, die sich innerlich distanziert haben, aber äußerlich blieben sie zumeist eingebunden. Man sieht, wie sich das auflöst.

Das macht sich auch äußerlich fest an weniger Mitgliedern, an weniger regelmäßigen Kirchenbesuchern. Jetzt hat der Präsident des Amtsgerichts Saarbrücken die Kreuze in den Gerichtssälen abhängen lassen. Ist das auch ein Zeichen dafür, dass der Glaube erodiert?

Aus meiner Sicht ist das ein Zeichen dafür. Denn es zeigt, dass es nicht mehr allgemein akzeptiert ist, zu sagen, dass wir in einer Gesellschaft oder einem Kulturraum leben, der wesentlich christlich geprägt ist. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Menschen, die sich kritisch zu Wort melden und zeigen, dass sie das nicht einfach so hinnehmen wollen. Die prominenteste Stimme unter ihnen ist sicher Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer.

Bisher liegt die Entscheidung darüber, ob im Gerichtssaal ein Kreuz hängt oder nicht beim jeweiligen Behördenleiter, hier dem Präsidenten des Amtsgerichts. Die saarländische Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer hält eine landeseinheitliche Regelung zu Kruzifixen in Gerichtssälen für denkbar, wenn der Trend, Kreuze flächendeckend zu entfernen, weitergehe. Würden Sie eine solche Regelung begrüßen?

Ja. Ich habe gelesen, dass noch in 30 von 83 Sälen Kreuze hängen. Insofern kann man schon von einem Trend sprechen, wenn in weniger als der Hälfte der Säle ein Kreuz hängt.

Aber in vielen Gerichtssälen hängen auch Landeswappen und da ist ja das Trierer Kreuz drin.

(Der Bischof schmunzelt.) In der Tat. Nach dem Abhängen hat man gemerkt: An der Wand bleibt die Spur des Kreuzes, weil es so lange da gehangen hat. Jetzt hängt darüber das Landeswappen, und da ist das Trierer Kreuz drin. Offensichtlich ist das Kreuz doch widerständig.

Verstehen Sie, dass es Leute gibt, die sich daran stören könnten, wenn in Gerichtssälen Kreuze hängen?

Wenn Menschen Anstoß nehmen oder sagen: „Das Symbol des Kreuzes ist wesentlich mit dem christlichen Glauben verknüpft. Das ist aber nicht mein Glauben. Und deshalb will ich nicht unter dem Kreuz verhandeln.“ Das respektiere ich.

Was stört Sie an der Entscheidung des Präsidenten des Amtsgerichts Saarbrücken?

Natürlich hat der Gerichtspräsident das Hausrecht. Was mich aber erschreckt, ist das Niveau der Argumentation. Das ist für mich eigentlich der Punkt. Wenn ich es richtig mitbekommen habe, war die Argumentation des Gerichtspräsidenten folgende: Das Kreuz stehe für eine Autorität, die nicht zum Gericht passe, da in einer anderen Autorität Recht gesprochen werde. Natürlich: Auf der Grundlage der Verfassung wird Recht gesprochen im Namen des Volkes. Aber: Im Grundgesetz ist von der Verantwortung vor Gott und den Menschen die Rede. Dieser Gottesbezug soll uns sagen: „Wir sind eben nicht Gott.“ Damit ist gemeint, dass wir uns vielmehr in einer höheren Verantwortung sehen als die, die wir nur vor uns selber wahrnehmen.

Und dafür steht auch das Kreuz in Gerichtssälen. Wir Menschen sind nicht die letzten Richter, wir sind nicht die Herren dieser Welt, sondern wir stehen in einer größeren Verantwortung, nämlich in einer Verantwortung vor Gott und versuchen dieser Verantwortung gerecht zu werden, nach menschlichem Ermessen, bestem Wissen und Gewissen und mit rechtsstaatlichen Mitteln. Das Kreuz ist in dem Sinne ein Symbol für die größere Verantwortung, in der auch Richter, Staatsanwälte und Verteidiger stehen.

Im Grundgesetz ist zwar von Gott, nicht aber von Christus die Rede.

Das ist richtig: Im Grundgesetz sprechen wir von Gott. Da ist nicht von Christus die Rede. Aber natürlich ist unser Gottesbild hier in Deutschland und in Europa ganz stark vom biblisch-christlichen Gottesbild geprägt. Dazu müssen wir stehen. Unser Gottesbegriff ist nicht abstrakt.

Insofern meine ich, ist das Kreuz doch ein ganz wichtiger und hilfreicher Bezug, den wir aufrechterhalten sollten. Wenn das Grundgesetz von Gott spricht, dann kann es nicht unstatthaft sein, auch in amtlichen Räumen – natürlich nicht überall – ein Symbol zu haben, das darauf verweist.

Würden Sie das Kreuz – auch im Hinblick auf die deutsche Geschichte – als eine Mahnung sehen, dass man sich von gewissen universellen Werten und Rechten auch nicht mit formellen Gesetzen lösen darf?

Wenn Sie wollen, können Sie dies so ausdrücken. Ich würde sagen: Natürlich gilt das Recht, das da gesprochen wird. Aber es gibt eine größere Verantwortung, und in der stehe ich auch etwa als Richter. Ich verstehe nicht, was man daran ablehnen sollte.

Eine andere Frage ist die der richtigen Form. Es gibt in Gerichtssälen Kruzifixe – also Kreuze, die den Leib des gekreuzigten Christus tragen – die von ihrer Gestaltung her eher in einer Kapelle hängen könnten. Das muss ja gar nicht sein.

Kann man in dem zu Unrecht ans Kreuz geschlagenen Jesus auch die Mahnung verstehen, Gerechtigkeit walten zu lassen?

Darauf hat der Speyrer Bischof Karl-Heinz Bischof Wiesemann bei unserer letzten Begegnung mit der Landesregierung hingewiesen: Nämlich dass der, der da am Kreuz hängt, einer ist, der Opfer von Unrecht geworden ist, der zu Tode gebracht worden ist, weil man das Recht gebrochen hat. Insofern ist das Kreuz auch ein Anwalt für diejenigen, die wollen, dass ihnen Recht geschieht. Das ist auch eine Dimension, die im Kreuz drinsteckt. Das sind doch alles Themen, die wirklich passend sind in solchen Räumen. Stehen wir an der Seite derer, die ohnmächtig sind? Die wehrlos sind? Die darauf hoffen, dass es Gerechtigkeit gibt? Auch dafür steht das Kreuz!

Sie haben von einer Erosion des Glaubens gesprochen. Warum ist das denn eigentlich ein Problem? Warum sollte man glauben? Warum ist Glaube wichtig? Warum glauben Sie und an was glauben Sie?

Ich glaube an Jesus Christus. Es ist ganz wichtig – das wird mir immer deutlicher – nicht nur von Gott zu sprechen. „Gott“ ist ein sehr weiter Begriff. Ich meine, es war der Philosoph Martin Buber, der einmal gesagt hat, das besudelste Wort überhaupt sei „Gott“. Das sehen wir ja auch. Es gibt Menschen, die angeblich im Namen Gottes Gewalt verüben. Die werfen eine Bombe in einen Laden und sagen: „Gott ist groß!“. Das ist ein Missbrauch des Namens Gottes. Deswegen muss man klar sagen, an welchen Gott man glaubt. Ich glaube an den Gott, den Jesus Christus uns verkündet hat.

Und warum ist das wichtig?

Negativ gesprochen, weil ich der Überzeugung bin, dass ein Leben ohne den Glauben wesentliche Dimensionen des Lebens abschneidet. Mein Leben wäre eindimensionaler, kleiner, hoffnungsloser, als ein Leben mit dem Glauben. Der Glaube bereichert mein Leben. Natürlich bin ich zunächst zum Glauben gekommen, weil meine Eltern katholisch sind, weil sie mich haben taufen lassen. Aber den Glauben dann zu entdecken als etwas, das meinem Leben wirklich eine ganz besondere Dimension gibt, die es ohne ihn nicht hätte, das ist für mich der eigentliche Punkt.

Sie haben gesagt, der Glaube gibt Hoffnung. Er gibt vielen Menschen auch in sehr hoffnungslosen Lagen Hoffnung. Vor einigen Jahren habe ich ein Interview mit dem fast 100-jährigen Auschwitz-Überlebenden Alex Deutsch (1913-2011) geführt. Sein Überleben führte er vor allem darauf zurück, dass er – auch in der Hölle des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau – nie aufgehört habe, an sich und Gott zu glauben. Er hat gesehen, dass viele den Glauben schnell verloren haben, als sie nach Auschwitz kamen und schrien: „Wenn es einen Gott im Himmel gibt, wie kann der denn sowas zulassen?“. Die seien dann auch sehr schnell zu Grunde gegangen, während Alex Deutsch die Hoffnung nie aufgegeben hat. Er sagte: „Der Glaube ist die Kraft in jedem Menschen“. Würden sie das so unterschreiben?

Es ist sehr mutig, das so zu sagen. Dass wir Menschen Wesen der Transzendenz sind, d. h. einen Bezug über uns hinaus haben, das zeichnet jeden Menschen aus. Aber zu sagen: „Der Glaube ist die Kraft in jedem Menschen“? Das ist natürlich sehr allgemein. Ich würde sagen: „Gott ist die Kraft in jedem Menschen.“ Es gibt eine Form der Anwesenheit Gottes, der Präsenz Gottes in jedem Menschen, auch wenn der einzelne dies gar nicht so wahrnimmt.

Drückt sich diese Präsenz nicht im Glauben aus?

Ja, aber viele Menschen würden das für sich selbst nicht sagen. Ich aber würde sagen, die Kraft unseres Lebens ist, dass wir Geschöpfe Gottes sind, dass es eine Gegenwart Gottes in mir gibt. Diese Gegenwart positiv zu bejahen, das ist der Glaube.

Schafft nicht aber erst der Glauben eine Beziehung zu Gott?

Ja, aber viele Leute kommen gar nicht dorthin und haben trotzdem Kraft zu leben, auch zum Überleben. Diejenigen, die glauben, nennen das Glauben. Die anderen würden es vielleicht nicht so nennen. Ich wäre wahrscheinlich ein bisschen zurückhaltender in der Formulierung als Alex Deutsch. Aber es zeigt schon, welche Kraft der Glaube bei einem selber entfalten kann.

Viele Leute würden sagen: „Ich akzeptiere, dass der Glaube vielen Menschen persönlich Kraft gibt. In der Öffentlichkeit hat der Glaube aber nichts zu suchen.“ Ist Glaube Privatsache?

In jedem Fall ist der Glaube immer eine ganz persönliche Sache, aber nicht bloß Privatsache. Der Glaube muss auch die Möglichkeit haben, sich im öffentlichen Raum zu äußern, etwa indem Menschen zusammenkommen, als gläubige Menschen. Ich bin dagegen, dass Glaube in den Privatraum abgedrängt wird. Ich bin dagegen, zu sagen: „Du kannst ja glauben, was du willst. Ihr könnt euch zusammenfinden im geschlossenen Raum, aber nicht in der Öffentlichkeit.“ Das widerspricht der Religionsfreiheit. Religionsfreiheit heißt immer auch: die Religion öffentlich zeigen zu dürfen, dazu stehen zu dürfen. Also Privatsache nein, persönliche Sache ja.

US-Präsident Barack Obama hat in seiner Autobiographie geschrieben: „Glaube ist mehr als Trost für die Beladenen oder eine Versicherung gegen den Tod, der Glaube ist vielmehr eine aktive, greifbare Kraft in der Welt.“ Als Beleg für seine These führt er dabei beispielhaft die US-Bürgerrechtsbewegung an, deren Anführer der Baptisten-Pastor Martin Luther King war und die von christlichen Gemeinden ausging. Hat er Recht? Hat Glaube auch eine gesellschaftliche Dimension? Ist Glaube auch eine gesellschaftlich positive Kraft? Eine Kraft, die gesellschaftlichen Wandel und Fortschritt bewirkt?

Klar, da stimme ich Präsident Obama absolut zu. Das sehe ich genauso. Auf der einen Seite kann Religion zerstörerische Potentiale entfalten, es gibt eben auch die Verführbarkeit des Glaubens, das erleben wir ja, etwa in der Vermischung von Religion bzw. Glaube und Gewalt. Aber das Friedenspotential und das Potential, die Welt positiv zu gestalten, ist in den Religionen auch sehr stark. Insofern ist natürlich der Glaube eine gesellschaftlich starke Kraft und gestaltet auch Welt.

Am Ostersonntag lesen Sie Teil 2 des Interviews.

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