Die 32- jährige Gesundheits- und Krankenpflegerin Annika L. aus dem Landkreis St. Wendel möchte in diesem Interview auf den Pflegenotstand und die teilweise untragbaren Arbeitsbedingungen, die sie seit Jahren in ihrem Beruf miterlebt, aufmerksam machen.
Annika, kannst du uns deine Beweggründe dieses Interview zu führen in eigenen Worten kurz zusammenfassen?
„Ich arbeite seit 11 Jahren als examinierte Gesundheits- und Krankenpflegerin. Es ist mir ein persönliches Anliegen auf die Missstände in unserem Gesundheitswesen aufmerksam zu machen. Die personellen Engpässe zu Lasten der Pflegekräfte, die schlechte Bezahlung, die unzumutbaren Arbeitszustände und die immer anspruchsvolleren Patienten, das ist unser Arbeitsalltag.“
Was sollte, deiner Meinung nach, getan werden, um die Arbeitsbedingungen für Gesundheits- und Krankenpfleger zu verbessern?
„ Die Verantwortlichen in der Politik sollten mehr Gelder zu Gunsten des Pflegesystems investieren. Außerdem sollten deutlich mehr Ausbildungsanreize geschaffen werden. Wenn wir mehr Personal hätten, dann hätten wir auch mehr Zeit für die einzelnen Patienten. Jeder Patient benötigt ausreichende Fürsorge und Pflege, eine professionelle Betreuung sollte im Sinne aller Verantwortlichen sein. Kein Patient ist gleich, dementsprechend braucht jeder von ihnen eine individuelle Betreuung. Es gibt viele Patienten, die eine speziellere und intensivere Pflege benötigen, jedoch wird dies, meiner Meinung nach, im Zeitmanagement nicht ausreichend berücksichtigt.“
Arbeitest du seit Beginn deiner Ausbildung bei der gleichen Arbeitsstelle?
„ Nein. Meine Ausbildung habe ich in einem Krankenhaus absolviert. Nach meiner Arbeit im Krankenhaus habe ich in zwei Altenheimen und in der ambulanten Pflege gearbeitet. Seit 3 Jahren bin ich in einer Klinik fest eingestellt.“
Wenn du deine Arbeitsstellen miteinander vergleichst, welche Schlüsse kannst du ziehen?
„ Meine Ausbildung im Krankenhaus war zufriedenstellend. Ich habe viel gelernt, viele Bereiche durchlaufen und ich konnte mir fundiertes Wissen aneignen. Trotzdem wollte ich dort aber nicht bleiben. In diesem Krankenhaus waren zahlreiche Pflegekräfte aus dem Ausland, wodurch es immer wieder zu unzähligen Konflikten, angefangen bei Mentalitätsfragen, bis hin zu problematischen Situationen, in denen einiges aufgrund der Sprachbarriere schief lief. In den Altenheimen wurde pro Schicht nur eine examinierte Pflegekraft eingeteilt, des Öfteren nur mit einem Altenpflegehelfer, das bedeutet konkret, dass die gesamte Verantwortung für über 40 Personen, auf uns, den ausgebildeten Fachkräften, lag. Das Hauptproblem dabei ist, dass die Helfer viele Sachen, wie zum Beispiel Blutzucker messen, Verbände anlegen und wechseln oder Medikamentengabe nicht ausführen dürfen, sie sind lediglich für die Grundpflege zuständig. Dieses „Gesamtpaket“ verursacht sehr viel Arbeit, Stress, bis hin zu gesundheitlichen Beschwerden. Diese Zustände waren einfach nicht tragbar. Zusätzlich zum gängigen Standardprozedere muss man dann noch an den Arztvisiten teilnehmen. Ich hatte dort insbesondere schlechte Erfahrungen mit Vorgesetzten, mir wurde keinerlei Wertschätzung entgegengebracht. Schikanieren, Anschreien, Beleidigen und pedantisches Verhalten, selbst bei der Pflegedienstleitung, war gang und gäbe.
In der ambulanten Intensivpflege war ich für einen bettlägerigen, intubierten Patienten zuständig. Nach einer Woche Einarbeitungszeit hatte ich insgesamt 14 Tage im Monat 12 Stunden- Dienste, immer von 7-19 Uhr. Fast immer und das meine ich genau so, wurde ich an 13 von 14 freien Tagen angerufen und zur Arbeit gebeten. Die Standardbegründung „Personalmangel.“ Das war der Hauptgrund auch diesen Job freiwillig zu beenden. Andererseits war hier auch die psychische Belastung zu hoch. Es klingt jetzt sehr hart, wenn ich das so sage, aber ich möchte offen und ehrlich sein. Wenn man 12 Stunden täglich einen „lebendigen Toten“ beaufsichtigt, dann ist es nicht verwunderlich, dass so etwas auch belastend ist. Das hat mich fertig gemacht. Wenn man die Arbeit im Altenheim und die Intensivpflege vergleicht, dann ist das ein Unterschied wie Tag und Nacht.
In meiner jetzigen Arbeitsstelle, der Klinik, haben wir über 40 Patienten auf unserer Station. Hier herrscht ebenso enormer Personalmangel. Fast alle Patienten sind pflegebedürftig, sie benötigen Hilfestellung bei der Körperpflege, den Toilettengängen und sonstigen Aktivitäten des täglichen Lebens. Einige Patienten sind auch dement, genau diese benötigen noch viel mehr Zuwendung als die „normalen“ Patienten. Wenn es gut läuft, sind wir morgens zu viert und mittags zu dritt. Nachts sind wir immer alleine eingeteilt. Oft drängt sich mir das Gefühl auf, dass das Motto „Hauptsache, die Betten sind gefüllt!“ zur Tagesordnung gehört. Mir kommt es so vor, als würden Patienten, die eigentlich in ein Krankenhaus gehören würden, so lange wie möglich bei uns „gehalten“ werden. Die notwendigen diagnostischen Maßnahmen, wie zum Beispiel eine Darmspiegelung oder eine Echokardiographie, sind in unserer Einrichtung nicht durchführbar, trotzdem verweilen die Patienten, meiner Meinung nach, viel zu lange bei uns, bevor ihnen in solchen Angelegenheiten wirklich geholfen werden kann. Alles getreu der Devise „Geld regiert die Welt.“ Eine 6- Tage Woche, Früh-, Mittags- und Nachtschichten, psychische und physische Strapazen und das bestenfalls für 1800€ netto. Jeder ungelernte, bei Fresenius direkt eingestellte Produktionsmitarbeiter bekommt mehr Geld, als wir hartarbeitenden ausgebildeten Pflegekräfte. Wir arbeiten mit echten Lebewesen, mit Menschen, nicht mit Maschinen, wie kann es sein, dass die Arbeit in der Industrie im wahrsten Sinne des Wortes, mehr honoriert wird als unsere?“
Wie gestaltet sich ein typischer Arbeitstag für dich?
„Um 6.00 Uhr morgens ist Dienstantritt, bis 06:15 Uhr erfolgt dann die Schichtübergabe. Anschließend beginnen 3 Pfleger damit, die Patienten bei der Körperpflege und dem Anziehen zu unterstützen. Zeitgleich misst eine weitere Pflegekraft Zucker, spritzt Insulin und teilt Tabletten aus bzw. verabreicht sie. An zwei Tagen in der Woche sollen wir mindestens die Hälfte der Patienten auch noch wiegen. Das alles soll bis 08.00 Uhr, also in weniger als 2 Stunden erfolgen. Zwischen 08:00 und 08:30 Uhr sollen wir den Patienten das Frühstück ausgeteilt und es auch wieder abgeräumt haben, da um 08:30 Uhr die ersten Therapien beginnen. Das alles wäre eventuell ja noch zeitlich durchführbar, wenn die Beschwerden, Bitten und Aufforderungen seitens der Patienten unser Zeitmanagement nicht durcheinander bringen würden. Genau das gehört aber nun mal dazu, aber das interessiert die Verantwortlichen nicht. Wenn es gut läuft, haben wir unsere 30-minütige Pause bis halb 10 gemacht. Ab 09:30 Uhr ist der Ablauf wie folgt: Arztvisitenbegleitung und deren Ausarbeitung, Verbandswechsel, Blutdruckkontrolle, Wasser verteilen, Tische abwaschen und sich um Neuzugänge, Entlassungen und die ausführliche, strenge Dokumentation kümmern. Unser treuer Begleiter auf all unseren Schichten ist das Dauergeräusch unserer Patientenklingel. Gegen 11:00 Uhr wird nochmal der Blutzucker gemessen, das Insulin gespritzt und Tabletten ausgeteilt beziehungsweise verabreicht. Um 11:30 Uhr gibt es Mittagessen, häufig müssen wir den Patienten das Essen anreichen und manche Patienten in den Speisesaal fahren. Spätestens um 12:15 Uhr räumen wir das Essen wieder ab und bringen die Patienten zur Mittagsruhe ins Bett. Anschließend versuchen wir die Arbeiten, die vom Vormittag oftmals, zeitlich bedingt, noch nicht beendet werden konnten, zu erledigen. Von 13:00 bis 13:30 Uhr erfolgt die Übergabe an den Spätdienst.
Unterschiede zur Mittagsschicht sind zum Beispiel die Ausarbeitung der Arztanordnungen, das Richten der Tabletten, die Patienten für die Nacht fertigmachen, sprich Intimpflege, waschen und umziehen. Zusätzlich müssen wir uns um die Anliegen der Angehörigen kümmern und gegebenenfalls weiterleiten.
Bei der Nachtschicht müssen regelmäßige Rundgänge erfolgen. Die Vorstellung davon, dass in der Nachtschicht alle Patienten schlafen und die Schicht folglich ruhig verläuft, entspricht nicht den Tatsachen, im Gegenteil.
Immer wieder kommt es zu Notfällen, wie lebensbedrohlichen Situationen, Stürzen, etc. Manche Patienten müssen gelagert werden, das heißt, dass die Position des Patienten regelmäßig verändert werden muss. Viele inkontinente Patienten müssen immer wieder frisch gemacht werden. Die Patienten mit psychischen Störungen, wie zum Beispiel Demenz, erfordern eine besondere Betreuung. Beispielsweise das Beseitigen von Fäkalien an unüblichen Stellen, das Einfangen dieser Patienten oder der Versuch diese in ihrer Panik zu beruhigen, erfordert viel Zeit, Aufwand und ein starkes Nervenkostüm. Eigentlich kann man den Umfang eines Arbeitstages schlecht in Worte fassen, da kein Arbeitstag genau gleich abläuft. Man muss es einfach mal erlebt haben.“
Hast du schon einmal darüber nachgedacht umzuschulen?
„Ja. Ich habe schon oft darüber nachgedacht Tierpflegerin zu werden, aber nach Rückfrage beim Arbeitsamt, hätte ich die Finanzierung einer entsprechenden Ausbildung nur erhalten, wenn ich bereit gewesen wäre anschließend in ein Gebiet außerhalb des Saarlandes umzuziehen, in dem mehr Stellenangebote in diesem Bereich vorhanden gewesen wären. Da ein Umzug für mich nicht in Frage kam, habe ich mich entschieden meinen Beruf weiter auszuüben.“
Warum übst du diesen Beruf immer noch aus, wenn du eigentlich schon länger Zeit unzufrieden bist?
„ Die Hauptgründe für meine Unzufriedenheit sind die teilweise untragbaren Zustände, die uns Pflegekräften zugemutet werden. Bei allen Arbeitsstellen konnte ich immerzu die Folgen des starken Personalmangels spüren.
Der Beruf an sich, der Umgang mit den Patienten ist absolut erfüllend. Ich habe ein tolles Team und verstehe mich super mit meinen Kollegen, auch über unser berufliches Verhältnis hinaus. Ich helfe den Patienten sehr gerne und unterstütze sie von Herzen. Wenn die Patienten uns gesund verlassen, dann weiß ich, dass ich meinen Beitrag dazu geleistet habe. Hätte ich diesen Antrieb nicht, wäre ich schon längst nicht mehr in meinem Beruf.“
Was möchtest du den verantwortlichen Personen mitteilen?
„ In unserem Beruf sind die Ruhephasen nach dem Arbeitsschutzgesetz nicht gewährleistet. Beispiele dafür wären, wenn ich nach einer Spätschicht am nächsten Morgen zu einer Frühschicht antreten muss oder mir nach einer 70- stündigen Nachtschichtwoche im Anschluss eine Mittagsschicht auferlegt wird, das ist einfach unmöglich. Stellen Sie sich mal vor, was geschehen würde, wenn alle Pflegekräfte mit Hilfe der Gewerkschaften streiken würden? Was würde dann passieren?
Es würde mich interessieren, wie sich die Verantwortlichen äußern würden, wenn sie einen Monat lang unseren Job unter den gegebenen Bedingungen ausführen müssten. Vielleicht würden sie sich dann einmal überlegen den Personalschlüssel höher anzusetzen, denn das wäre dringend nötig. Meine Kollegen und ich haben bereits mehrere Versuche gestartet um der Pflegedienstleitung diese Problematik näher zu bringen; ärgerlicherweise werden wir dort immer mit der Begründung, dass der Personalschlüssel stimmen würde, abgewiesen. Es sollte mehr dafür getan werden, dass die Pflegeberufe wieder zu attraktiveren Berufsbildern werden, aber in Zeiten solcher Zustände, würde auch ich eine solche Ausbildung nicht mehr anstreben.
In anderen Ländern, funktioniert dieses System viel besser, da der Personalschlüssel höher angesetzt ist. Die Pflegekräfte können sich besser um die Patienten kümmern, weil sie nicht so stark unter Zeitdruck stehen. Das fördert die Zufriedenheit und die Motivation. Ganz zu schweigen davon, dass die Entlohnung eine erheblich bessere ist. Ich denke, dass die Pflegeberufe immer wieder deutlich unterschätzt werden.
Erfahrungsgemäß wird sich auch in naher Zukunft nichts ändern, aber ich werde zumindest die Hoffnung darin nicht verlieren. Ich werde immer wieder versuchen darauf aufmerksam zu machen. Meine Kollegen und ich haben uns auch schon mehrfach zusammengeschlossen um gemeinsam Veränderungen zu erreichen, da bleiben wir, nach wie vor, dran.“
Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn macht, egal wie es ausgeht. [Vaclav Havel]