NACHRUF AUF EINEN OBDACHLOSEN

Endstation Obdachlosigkeit – ein Thema, das auch uns (be-)treffen kann!

Ein Obdachloser sitzt auf der Straße und hält seinen Hund auf dem Schoß.
Oft sind es gesundheitliche, finanzielle oder soziale Probleme, die Menschen in die Obdachlosigkeit führen.

„Als Gott sah, dass der Weg zu lang, der Hügel zu steil und das Atmen zu schwer wurde, legte er den Arm um ihn und sprach: Komm heim!“

Ich trauere um Jürgen, St. Wendeler Bürger, > 70 Jahre alt, obdachlos, in Saarbrücken mit Verletzungen tot aufgefunden vor ca. vier Jahren.

Ich trauere um einen Menschen, den das Schicksal in die Obdachlosigkeit geführt hatte, der täglich die halbe Nacht im Zug verbrachte, morgens gegen 4 Uhr aus dem letzten Zug stieg und bis zur Öffnung einer St. Wendeler Bäckerei auf einer überdachten Bank am Bahnhof schlief, ob im Sommer, ob im Winter, ob bei Regen oder bei Eiseskälte. Immer dabei hatte er einen Handwagen mit seinen wenigen Habseligkeiten.

Ich weiß, wo Jürgen aufgewachsen war, kenne ein paar Einzelheiten aus seiner Vergangenheit, letztendlich aber nur Fragmente seiner Lebensgeschichte. Der Tod seiner Lebensgefährtin hatte ihn aus der Bahn geworfen. Ich sehe ihn noch vor mir. Jeden Morgen saß er in einer Ecke der Bäckerei, trank seinen Kaffee, sah immer gepflegt aus und hatte überraschend volles schwarzes Haar für einen Mann in seinem Alter. Irgendjemand hatte mir erzählt von dem Obdachlosen und irgendwann sprach ich ihn an. Jürgen war humorvoll, kannte viele Bürger unserer Kleinstadt und deren Geschichten. Und an einem Abend, als für die Nachtstunden Minusgrade vorhergesagt worden waren, bat ich meinen Mann, Jürgen ein Winterquartier geben zu dürfen. Es war später Abend und erleichtert fand ich ihn am Bahnhof vor. Er willigte erfreut ein und bezog für einige Wochen einen Kellerraum in unserem Haus, in dem er sich überglücklich niederließ. „Endlich komme ich zur Ruhe“, höre ich ihn noch heute sagen. Als im Frühjahr die Temperaturen stiegen, versuchten wir eine dauerhafte Bleibe zu finden. Jürgen hatte allerdings den Wunsch, den Sommer auf einem Campingplatz in Lebach zu verbringen. In Lebach kannte er sich aus, dort hatte er viele Jahre in einem metallverarbeitenden Unternehmen gearbeitet. Lebach war seine zweite Heimat. Und so verloren wir uns aus den Augen. Und weil Jürgen verboten worden war, seinen Handwagen in der Nähe des Cafés abzustellen, in dem er so gerne seinen Kaffee trank, war er am Bahnhof in St. Wendel nicht mehr anzutreffen.

Dann kam Corona, das Virus, das unser aller Leben veränderte. Immer wieder zogen meine Gedanken zu Jürgen. „Wo ist er, was macht er, wie kommt er durch die Tage, wenn die Gastronomie geschlossen ist?“  Im vergangenen Sommer suchte ich bewusst nach Antworten und war erschüttert, als mir erzählt wurde, dass Jürgen schon vor Ausbruch des Coronavirus in Saarbrücken mit Verletzungen durch Fremdeinwirkung tot aufgefunden worden war. Sein Tod schmerzt sehr! Ich trauere um einen Menschen!

Im vergangenen Winter wurden in Deutschland 23 Obdachlose erfroren aufgefunden, mindestens 16 wurden getötet.

Ein Anstieg an Gewaltdelikten an Obdachlosen ist zu verzeichnen. Sie werden bestohlen, geschlagen, getreten, mit Benzin übergossen und angezündet. Und wenn sie schlafen, wird auf sie uriniert. Viele verwenden ihren Schlafsack nur noch als Decke. Denn bei Gefahr kommen sie nicht schnell genug aus dem Schlafsack, um sich wehren oder fliehen zu können. Die Hunde vieler Obdachlose sind nicht nur Freund, sie dienen auch als Warnsignal in der Nacht. Leider dürfen keine Tiere mit in Notunterkünfte gebracht werden. So bleibt den Tierhaltern unter den Obdachlosen nur die Option, gefährdet im Freien zu übernachten, sofern sie nicht bei Freunden oder Bekannten in der Nacht unterkommen.

Obdachlosen-Notunterkünfte nur für die Nacht

Aber auch diejenigen, die keinen Hund haben, dürfen nur die Nächte in Notunterkünften verbringen, die sie dann am Morgen mitsamt ihrem Gepäck wieder verlassen müssen, auch wenn es draußen kalt ist und/oder regnet. Den Menschen fehlt jede Möglichkeit, ihr Gepäck sicher und vor Diebstahl geschützt irgendwo verstauen zu können. Hier könnten Schließfächer in den Städten Abhilfe schaffen.

Obdachlose stören das Stadtbild!?

Im Stadtbild sind Obdachlose nicht gerne gesehen. Bänke oder überdachte Sitzgelegenheiten werden immer öfters abgebaut, damit sich keine Wohnungslosen dort versammeln oder sich darauflegen können. Aktuell wurde ich vor Weihnachten in unserer Stadt Zeuge, dass einem Obdachlosen nahegelegt wurde, nicht bereits morgens vor Öffnung eines Cafés auf einem der Stühle davor zu sitzen.

Obdachlosigkeit hat viele Gesichter

Jede/r Betroffene hat eine andere Geschichte. Und Obdachlosigkeit könnte auch die meisten von uns treffen. In einem Fernsehbericht zur Thematik schilderten Obdachlose, welche Lebensumstände dafür verantwortlich waren, dass sie auf der Straße leben. Eine Frau von über 60 Jahren im Bezug von Arbeitslosengeld2 verlor ihre Wohnung wegen Eigenbedarfs des Vermieters. Mit zwei kleinen Hunden und trotz Wohnberechtigungsscheins war es ihr nicht möglich, eine neue Wohnung zu finden. Sie sprach über die lange Bewerberliste für Sozialwohnungen, nach der sie laut Wohnungsgesellschaft ca. 2 bis 3 Jahre hätte warten müssen, bis sie an die oberste Stelle gerückt wäre. So nahm sie ein Angebot an, mit den Hunden drei Jahre lang in einer Garage zu leben, bis sich die Chance auf eine neue Wohnung auftat. Diese Erfahrung teilt unser ehemaliger Pflegesohn, der in Neunkirchen eine bezahlbare Sozialwohnung suchte. Mit Eintreffen der Flüchtlinge aus Syrien war es kaum mehr möglich, günstigen Wohnraum zu finden und kleine, schmuddelige Wohnungen wurden zu stark überhöhten Mietpreisen angeboten.

Beseitigung der Obdachlosigkeit bis 2030?

Die Bundesregierung veröffentlichte Ende 2022 zum ersten Mal einen Bericht zur Lage der Wohnungslosen in Deutschland. Demnach haben rund 263.000 Menschen kein festes Obdach. Stand 31.01.2022 lebten ca. 178.000 Betroffene in Notunterkünften. Ca. 49.000 Menschen waren verdeckt obdachlos bei Freunden oder Bekannten untergebracht und auf der Straße lebten 37.000 Obdachlose, davon ca. 2/3 männlichen und 1/3 weiblichen Geschlechtes, 2% divers oder es lagen keine Angaben vor. Der Gesundheitszustand von mehr als 40 % wird von den Betroffenen auf der Straße mit „weniger gut“ oder „schlecht“ angegeben. Unter allen Befragten sind mehr als die Hälfte von einer chronischen Erkrankung oder einer Behinderung betroffen. 35 % der Wohnungslosen sind suchtkrank. Aus dem Bericht geht ebenfalls hervor, dass als Ziel der Bundesregierung angestrebt wird, Obdachlosigkeit bis 2030 zu beseitigen.

Die Realität sieht derzeit anders aus. Sozialverbände warnen, dass sich die Situation weiterhin verschlimmern wird. Der soziale Wohnungsbau wurde in der Vergangenheit von politischer Seite her vernachlässigt, es gibt zu wenig bezahlbaren Wohnraum und zu wenig kleine Wohnungen, die auch für Einzelpersonen geeignet sind. Die gestiegenen Lebenshaltungskosten, Energiekosten und Mietpreise sowie die Verknappung auf dem Wohnungsmarkt – auch durch die aktuelle Flüchtlingssituation bedingt – verschärft die angespannte Lebenssituation vieler Menschen. Laut dem Paritätischen Wohlfahrtsverband sind ca. 14 Mio. Menschen in Deutschland von Armut betroffen, darunter fallen 43 % der alleinerziehenden Frauen und 30 % aller Familien mit mehr als 3 Kindern. Jedes 5. Kind lebt in unserem „reichen“ Land in Armut.

Sind Obdachlose verantwortlich für ihre Situation?

Dem leider oft vorherrschenden Vorurteil, dass Obdachlose ihre Situation selbst zu verantworten haben, sind neben dem Verlust der Wohnung, finanziellen Einbußen durch Jobverlust oder gestiegener Lebenshaltungskosten folgende Gründe entgegenzusetzen. Sehr oft sind schwerwiegende Langzeiterkrankungen mit der Folge von drastischen Einkommenseinbußen ein Grund, das Leben finanziell nicht mehr stemmen zu können. Der Tod von geliebten Menschen, Trennung und Scheidung können emotional so aus der Bahn werfen, dass das Leben nicht mehr bewältigt werden kann. Wenn dann kein soziales Netz aus Familie und/oder Freunden einen Menschen auffängt, ist der Weg zum emotionalen und in der Folge sozialen Absturz nicht mehr weit entfernt. Viel Verständnis eines meiner ehemaligen Vorgesetzten sicherte die Arbeitsstelle eines jungen Mitarbeiters, der nach der Trennung seiner Freundin von ihm nicht mehr in der Lage war, zur Arbeit zu kommen und einfach unentschuldigt fernblieb. Dieses Verständnis bringen nicht alle Arbeitgeber auf.

Als weitere Ursache kommen die Süchte hinzu, ob Alkohol, Drogen oder auch die Spielsucht, die oftmals finanziellen Ruin zur Folge hat. Eine Alkoholsucht muss als Krankheit angesehen werden! Wir wissen nicht, in welcher Familiensituation ein Mensch aufgewachsen ist, mit welchen Schicksalsschlägen er konfrontiert wurde, wie ein Suchtverhalten zum Kompensieren der inneren Not entstanden ist. Wir, die eventuell abends den Ärger mit dem Chef gemütlich auf unserer Couch bei einem Glas Rotwein wegspülen, die trotz Diabetes unsere Diät nicht einhalten, das Rauchen nicht sein lassen können und, und, und…. Wir sollten es vermeiden, auf Andere hinabzuschauen!

Wie verhalten wir uns, wenn wir Menschen begegnen, die auf der Straße leben?

Wenn wir an Obdachlose denken, denken wir eher an Menschen, zumeist Männer, die – oft mit ihren Hunden – an den Seiten der Einkaufsstraßen in Saarbrücken sitzen und stumm oder auch mittels selbstgeschriebener Pappe-Schilder um Unterstützung bitten. Vielleicht gehen wir an ihnen vorbei, ohne ihnen einen Blick zu schenken, vielleicht werfen wir sogar eine Münze in ihr Spendengefäß, aber reden wir mit ihnen, fragen wir nach, wie es ihnen geht? Ich zitiere sinngemäß Prof. Dr. Gerhard Trabert, der erste Arzt in Deutschland, der eine Zulassung für die ärztliche Versorgung von Obdachlosen auf der Straße hat. In einer Fernsehsendung wünschte er sich, dass wir den Obdachlosen ein wenig von dem Wichtigsten geben, was wir haben: Zeit!

Der Weg aus der Obdachlosigkeit

Um einen Weg aus der Obdachlosigkeit zu finden, sind laut Herrn Prof. Dr. Trabert zwei Punkte essentiell:
– Der Obdachlose braucht dringend eine Wohnung als eigenen Schutzraum
– Der Obdachlose braucht eine Aufgabe, die ihm Lebenssinn schenkt. Hierzu kann auch eigenes Engagement für andere Menschen gehören.

Housing First – Auf Finnlands Straßen leben kaum noch Obdachlose

Finnland ist das einzige europäische Land mit sinkenden Obdachlosenzahlen. Wie funktioniert das? Es hat sich gezeigt, dass Obdachlose zuerst eine eigene Wohnung als wichtigste Voraussetzung für eine erfolgreiche Reintegration in die Gesellschaft benötigen. Im Rahmen des Housing First erhalten die Wohnungslosen zu allererst eine Wohnung mit Mietvertrag ohne Knüpfung an Bedingungen. Weiterhin begleiten Sozialarbeiter die Obdachlosen auf ihrem Weg. Auch in unserem Saarland gibt es ein Housing First Pilotprojekt der Diakonie Saar. Wünschenswert wäre ein Erfolg wie in Finnland. Voraussetzung hierfür ist wiederum geeigneter günstiger Wohnraum.

Obdachlos in St. Wendel – wohin?

Wohin können sich Betroffene wenden, denen Obdachlosigkeit droht in unserem Landkreis?
Die Ortspolizeibehörde ist verpflichtet, drohende Obdachlosigkeit abzuwenden. Erste Ansprechstelle ist das Bürgeramt in St. Wendel gegenüber der Basilika. Obdachlose in unserem Landkreis finden Unterkunft im Obdachlosenheim in Niederkirchen. Es ist überaus wichtig, diese Information vor allem in der kalten Jahreszeit ohne Berührungsängste weiterzugeben an Menschen, die in unserem Landkreis auf der Straße leben.

Kostenlose warme Suppen oder Eintöpfe bietet montags und donnerstags die AWO in ihrem Wintercafé in der Julius-Bettingen-Straße 5 in der Zeit zwischen 12:30 Uhr und 16:30 Uhr an. Hier darf man sich aufhalten, aufwärmen und im WLAN iPads nutzen. Informationen erhält man unter der Telefonnummer 06851-808909.

Wo finden Obdachlose im Winter Hilfe im Saarland? Hier eine Liste einiger Anlaufstellen:

Der Kältebus Saarbrücken bietet zwischen Mitte Dezember bis Ende März von 21.00 bis 06.00 Uhr einen warmen und sicheren Schlafplatz. Zu finden ist die Kältehilfe an der Ecke Halberg-/Mainzerstraße in Saarbrücken. Mehr dazu unter: Website des Kältebusses Saarbrücken

Wärmestube Saarbrücken in der Trierer Straße: Website der Wärmestube Saarbrücken.

Ingos kleine Kältehilfe: Website von Ingos kleine Kältehilfe.
Mitgliedschaft möglich ab 5 € Jahresbeitrag

Spendenkonto:

Ingos kleine Kältehilfe e.V.
Vereinigte Volksbank eG
IBAN : DE30 5909 2000 8073 7500 09

Einfach spenden geht auch über Paypal an:
hand-in-hand@gmx.de

Notschlafstelle der AWO Saarland
Die AWO Saarland bietet in der Brückenstraße 26 in Saarbrücken eine Notschlafstelle an. Mehr Informationen unter: Website Notschlafstelle AWO Saarland.

Herberge zur Heimat in Saarbrücken
Die Herberge zur Heimat der Diakonie Saar am Ludwigsplatz in Saarbrücken bietet 25 stationäre Plätze zum Übernachten. Mehr dazu unter: Website der Herberge zur Heimat Saarbrücken

Haus der Diakonie in Saarbrücken, Neunkirchen und Völklingen
Wohnungslosenhilfe bekommt man auch in den Häusern der Diakonie in Saarbrücken, Neunkirchen und Völklingen. Informationen dazu findet ihr unter: Hilfen der Diakonie Saar.

Bruder-Konrad-Haus in Saarbrücken
Die Caritas bietet in ihrem Bruder-Konrad-Haus in Saarbrücken 65 Plätze. Mehr zu dem Angebot unter: Bruder-Konrad-Haus Saarbrücken.

Ökumenische Wärmestubb“ Neunkirchen
In der „Ökumenischen Wärmestubb Neunkirchen“ von der Diakonie Saar erhalten obdachlose Menschen unter anderem ein Frühstück und eine Dusche. Mehr unter: Website der Diakonie Saar

Droht einem Obdachlosen der Tod durch Erfrierung, rufen Sie bitte den Notruf unter der Telefonnummer 112 an. Sie können Leben retten!

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