Seit knapp einem Jahr ist bekannt, dass Gerhard Richter, der vielleicht bedeutendste lebende Künstler der Welt, die drei neuen Hauptchorfenster in der Tholeyer Abteikirche entwirft. Nun ist auch bekannt, wie die neuen Fenster aussehen werden. Am Mittwoch wurden die Entwürfe auf einer Pressenkonferenz in der Abtei offiziell vorgestellt.
Nachdem schon am Dienstagabend Freunden und Förderern der Abtei Richters Entwürfe für die drei Hauptchorfenster präsentiert worden waren (wir berichteten), stellten Abt Mauritius und der Sprecher der Abtei Frater Wendelinus die Entwürfe am Mittwoch auf einer Pressekonferenz in der Abtei Tholey auch den nationalen und internationalen Medien vor. Die gezeigten Entwürfe sind ein Meter mal zwei Meter groß und aus Milchglas gefertigt.
Zudem wurden am Mittwoch Fahnen, auf denen die Entwürfe in Originalgröße (1,95 Meter mal 9,3 Meter) abgebildet sind, an der Außenfassade der Abteikirche vor den entsprechenden Hauptchorfenstern ausgerollt. Unter https://abtei-tholey.de/renovierung.html sind die an der Außenfassade angebrachten Fahnen live auf einer Webcam zu sehen.
„…obwohl ich ja… Lust dazu hätte„
Der künstlerische Leiter der Musikfestspiele Saar Bernhard Leonardy, der den Kontakt zu Richter hergestellt hatte, erzählte, wie es der Abtei und ihm gelang, Richter von dem Projekt zu überzeugen. Nach der Anfrage an Richter, ob er sich vorstellen könne, Fenster für die Abteikirche zu entwerfen, sprach Richter Leonardy im Juni 2018 auf den Anrufbeantworter. Zunächst sagte Richter: „Ich bin einfach zu alt, ich glaube nicht, dass ich es schaffe…“ Dann eine lange Pause. 10 Sekunden lang. 10 Sekunden, in denen laut Leonardy wohl der Heilige Geist wirkte. Denn Richter fuhr fort: „…obwohl ich ja… Lust dazu hätte.“ Am Ende war die Lust größer als die Bedenken.
Muster für Entwürfe stammen aus „Patterns“
Als Vorlage für die Tholeyer Richter-Fenster gilt ein abstraktes Bild Richters aus dem Jahr 1990 mit der Werkverzeichnis-Nummer 724-4 (https://www.gerhard-richter.com/de/art/paintings/abstracts/abstracts-19901994-31/abstract-painting-6851/?&categoryid=31&p=3&sp=32).
Auf den ersten Blick haben das abstrakte Bild 724-4 und die Entwürfe für die Tholeyer Hauptchorfenster mit ihren orientalisch anmutenden Mustern jedoch wenig gemeinsam. Wie entstanden also aus diesem abstrakten Bild die Entwürfe für die Tholeyer Fenster? Dazu müsse man sein Buch „Patterns“ (https://www.gerhard-richter.com/en/videos/editions/gerhard-richter-patterns-editions-cr-149-115?fbclid=IwAR1SOA_mZcGkB9wdcv7F-1UIDH7DR8oYCTIt4s8uSrmtkgj2Y55OV2-9QD8) kennen, so Richter gegenüber der dpa. „Da ist ein abstraktes Bild. Das wird vervielfältigt und geteilt in die Hälfte, in Viertel, in Achtel, in Sechzehntel, in Zweiunddreißigstel und so weiter. Bis es nur noch abstrakte Linien sind. Und aus den abstrakten Linien sind dann später Bilder entstanden.“ Die Motive der Chorfenster stammen aus der „16er-Serie“.
Verstanden? Nein? Dann mal Schritt für Schritt: Zunächst hat Richter das abstrakte Bild 724-4 vertikal in 16 Streifen geschnitten. Jeden dieser Streifen hat er dann in seinem Buch „Patterns“ gespiegelt und anschließend versechzehnfacht. Dadurch sind neue Bilder bzw. neue Muster (engl. patterns) entstanden. Unter anderem hat er auch den zehnten Streifen gespiegelt und versechzehnfacht.
Viele Muster der neuen Tholeyer Hauptchorfenster hat Richter aus der Spiegelung dieses zehnten Streifens gewonnen. Haben Sie schon welche erkannt? Zum Beispiel stammen alle drei Muster des nördlichen Hauptchorfensters aus der Spiegelung dieses zehnten Streifens.
Glasmalerei van Treek setzt Entwürfe um
Die Münchener Hofglasmalerei Gustav van Treeck hat nun die nicht ganz leichte Aufgabe, Richters Entwürfe auf Glas zu bringen. Katja Zukić, Geschäftsführerin des Traditionsunternehmens, ging bei der Pressekonferenz auf die technischen Herausforderungen bei der Umsetzung der Entwürfe ein. Richter, der nach eigener Aussage von der Umsetzung von Graphik in Glasmalerei nichts versteht, habe laut Zukić vollstes Vertrauen in die Glaswerkstatt.
Richter sorgte im Vorfeld für Verwirrung
Die am Mittwoch präsentierten, an Orientteppiche erinnernden Entwürfe unterscheiden sich stark von den Entwürfen, die Richter überraschend am 22. August, also zwei Wochen vor der Pressekonferenz (!), auf seiner Facebook-Seite veröffentlichte. Richter schrieb damals, dies seien „seine Entwürfe für die Kirchenfenster der Abtei Tholey“.
Bernhard Leonardy gab daraufhin umgehend „Entwarnung“: „(Es) sind leider die ganz falschen Entwürfe. Es kommt alles ganz anders.“ Bei den veröffentlichten Entwürfen handele es sich um „ganz frühe Entwürfe“ (wir berichteten am 23. August). Nach nur einem Tag löschte Richter den Facebook-Post wieder.
Nur wenige Tage später sorgte Richter in einem Interview mit der Rheinischen Post vom 27. August erneut für Verwirrung, indem er Leonardys Aussage, dass alles ganz anders komme, indirekt widersprach. Auf die Frage, ob die am 23. August von wndn.de veröffentlichten Entwürfe „der aktuelle Stand“ seien, antwortete Richter: „Nur das mittlere ist nicht mehr aktuell, ich habe das später gewechselt. Das neue ist aber dem alten ähnlich.“
Heute wissen wir: Leonardy hatte Recht. Es kam tatsächlich alles ganz anders. Denn: Zwar sind auch die Entwürfe, die Richter auf Facebook veröffentlichte, auf das Abstrakte Bild 724-4 zurückzuführen und stammen aus dem Buch „Patterns“. Allerdings sind die Motive nicht der „16er-Serie“, sondern der „8er-Serie“ entnommen. Richter wollte offenbar gezielt Verwirrung stiften.
Was hat Arvo Pärt mit den Fenstern zu tun?
Im Interview mit der Rheinischen Post überraschte Richter auch mit einer Aussage zur Rolle Arvo Pärts in Zusammenhang mit den Fenstern. Laut Abtei hängen die Fenster mit Arvo Pärt, dem meist gespielten zeitgenössischen Komponisten der Welt, zusammen. Pärt wolle im Juni nächsten Jahres gerne zur Wiedereröffnung der Abteikirche kommen. Laut Saarland.de möchten die befreundeten Richter und Pärt in Tholey „mit ihrer Einheit von Kunst und Musik einen neuen Höhepunkt ihres Schaffens setzen“.
Gegenüber der Rheinischen Post sagte Richter jedoch, Pärt habe „nichts mit den Fenstern zu tun“. Man mache „offenbar viel Wind, damit das Projekt berühmt wird.“ Was Pärt mit den Fenstern genau zu tun hat, ist also nicht ganz klar. Bekannt ist jedoch, dass Richter und Pärt in der Vergangenheit schon des Öfteren zusammengearbeitet haben.
Die beiden trafen 2013 erstmals zusammen. Richter widmete dem Komponisten eine Fotoversion seiner neuen Gemäldeserie „Birkenau“ (https://www.gerhard-richter.com/de/search/?search=937) und sein Werk „Doppelgrau“ (https://www.gerhard-richter.com/de/search/?search=doppelgrau). Der Musiker komponierte im Gegenzug den Chorgesang „Drei Hirtenkinder aus Fatima“ (https://www.youtube.com/watch?v=SQ_FeG-D-RE). 2015 präsentierten der Kölner Maler und der estnische Komponist ihre Arbeit beim Internationalen Kunstfestival in Manchester (https://www.gerhard-richter.com/de/videos/exhibitions/richter-part-257?tab=literature-tabs&sort=1,-1).
Zuletzt arbeiteten Richter und Pärt in diesem Jahr im Rahmen von „Reich Richter Pärt“ im neuen New Yorker Kulturzentrum „The Shed“ zusammen (https://www.gerhard-richter.com/de/videos/exhibitions/reich-richter-part-259).
Möglicherweise kommt es im Juni nächsten Jahres bei der feierlichen Wiedereröffnung der Abteikirche zu einem Wiedersehen der beiden Künstler. Richter schloss vor wenigen Tagen gegenüber der Saarbrücker Zeitung ein Kommen wegen gesundheitlicher Probleme zwar aus („Ich bin nicht gesund. Es geht jeden Tag schlechter.“). Leonardy, der Richter zuletzt vor zwei Wochen traf, ist aber dennoch optimistisch: „Ich bin guten Mutes, dass Gerhard Richter kommt, wenn die Gesundheit hält.“
Zur Information:
Die Abtei Tholey in Tholey im Saarland ist ein Benediktinerkloster im Bistum Trier. Das Kloster wurde 634 n. Chr. erstmals urkundlich erwähnt und gilt als ältestes Kloster auf deutschem Boden. Zurzeit leben in der Abtei zwölf Mönche im Alter von 23 bis 73 Jahren. Die heutige frühgotische Abteikirche aus dem 13. Jahrhundert zählt zu den ältesten gotischen Kirchen Deutschlands.
Seit Mai 2018 ist die Tholeyer Abteikirche wegen umfangreicher Sanierungsarbeiten geschlossen. Die Kirche wird unter anderem eine neue Orgel, eine neue Innenbeleuchtung und neue Fenster bekommen. Zudem soll das Hauptportal renoviert werden. Die Gesamtkosten der Renovierung sollen bis zu 5 Millionen Euro betragen. Die Renovierungsarbeiten sollen im Sommer nächsten Jahres fertig sein.