In Brüssel, London und den anderen Hauptstädten, nicht nur in der EU, ist eine lange Nacht zu Ende gegangen: eine Nacht des Auszählens der Stimmen im Brexit-Referendum, der Abstimmung, mit der die Briten über ihre Zukunft in oder außerhalb der Europäischen Union abstimmen konnten. Das Ergebnis, eine knappe Mehrheit für die Befürworter des Austritts aus der EU, ist ein Schlag ins Gesicht der Pro-Europäer europa- und weltweit. Noch sind die Briten nicht draußen. Ein Erdbeben ist das Ergebnis nichtsdestotrotz.
Es ist nicht das erste nationale Referendum über die EU gewesen, noch nicht einmal das erste über einen möglichen Austritt eines Staats aus dem europäischen Staatenverbund (dieses fand 1975 ebenfalls im UK statt und ergab eine 2/3-Mehrheit pro EU [damals noch: EWG]-Mitgliedschaft). Dennoch wird der 23. Juni 2016 als historisches Datum in die europäische Geschichte eingehen: erstmals hat sich die Bevölkerung eines Mitglieds gegen die weitere Mitgliedschaft ausgesprochen.
Sämtliche Bemühungen im Vereinigten Königreich und außerhalb, die Ansprachen führender nationaler und internationaler Politiker, unter ihnen Barack Obama, haben nichts bewirkt. Nach der tragischen Ermordung von Jo Cox, einer EU-freundlichen britischen Parlamentsabgeordneten, schien das Pendel zugunsten der weiteren Mitgliedschaft auszuschlagen. Mit 51,8% hat sich die andere Seite durchgesetzt – das Unfassbare ist geschehen, etwa 100 Jahre nach den Schlachten von Verdun und im Skagerak, Ereignisse, deren Wiederholung das Projekt der europäischen Integration, vor allem der EU, für immer ausschließen sollte.
Die genauen Konsequenzen für das Vereinigte Königreich, für die EU und die Welt sind zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehbar. Gewisse Vorhersagen können allerdings getroffen werden. Vor allem jene, dass die Auswirkungen erheblich sein werden, und es steht zu befürchten, dass sie mehrheitlich Nachteile für alle Beteiligten mit sich bringen werden.
Für die Briten steht nicht nur ihre Mitgliedschaft im größten Friedensprojekt und der tiefsten Wirtschaftsunion von Staaten weltweit in Frage. Vielmehr scheint die Zukunft des Staats, wie wir ihn kennen, gefährdet: während in England mehrheitlich anti-europäisch abgestimmt wurde, sind vor allem Schotten und Nordiren für die EU-Mitgliedschaft. Eine solche könnte ihnen in Zukunft nur als unabhängige Staaten möglich sein. Es wundert nicht, dass noch vor Bekanntgabe der Endergebnisse in beiden Ländern der Staat Vereinigtes Königreich als solcher in Frage gestellt wurde, und es würde nicht verwundern, wenn in Schottland und Nordirland schon bald entsprechende Austrittsreferenda, diesmal aus dem UK, auf die politische Tagesordnung gesetzt werden. Im schlimmsten Falle bliebe in einigen Jahren ein isoliertes, geschwächtes England, vielleicht im Bund mit Wales, als „Vereinigtes Königreich“ bestehen.
Wirtschaftlich sind für die Briten wenig Vorteile zu erwarten: Bereits in der Nacht nach dem Referendum, als sich das Ergebnis abzeichnete, verlor die britische Währung, das Pfund, massiv an Außenwert und erreichte ihren tiefsten Stand seit über 30 Jahren. Es droht nach dem Austritt der Verlust des Zugangs zum EU-Binnenmarkt. Eine Zukunft in der Europäischen Freihandelsassoziation EFTA (u.a. mit Norwegen und der Schweiz) oder gar im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), dem auch die EU-Staaten angehören, ist ungewiss. Vor allem was den EWR angeht, haben die anderen EU-Staaten ein erhebliches Wort mitzureden. Ihre Begeisterung, den Briten auch ohne EU-Mitgliedschaft die Vorteile des Binnenmarktes zu gewähren, dürfte minimal sein.
Die Briten werden, nicht nur aufgrund ihres ständigen Sitzes im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, weiterhin auf globaler Ebene politisch eine führende Nation sein. Dennoch werden sie ohne die Union deutlich geschwächt.
Dies gilt auch für die EU selbst. Da ist zunächst, in einem Zeitpunkt multipler Krisen (Flüchtlings- als auch Wirtschafts- und Finanzkrise), das desaströse Moment eines der wichtigsten EU-Staaten, dessen Austritt die Union wirtschaftlich wie politisch schwächen wird. Für die Union ergibt sich wohl die schwerste Krise ihrer Geschichte, aus ganz verschiedenen Gründen.
Obwohl führende Unionspolitiker deutlich gemacht haben, dass die Union auch nach einem möglichen Austritt weiter existieren wird und in einem Brexit möglicherweise sogar eine Chance für die weitere Integration liegen kann: so sicher sollte man sich dessen nicht sein. Bisher ist die Europäische Union aus jeder Krise gestärkt hervorgegangen, aber die Situation im Jahr 2016 ist eine ganz andere. In allen EU-Staaten sind EU-kritische oder –feindliche Parteien im Aufwind. In sieben Staaten sind sie mittlerweile an der Regierung beteiligt, so auch im Vereinigten Königreich und in Polen, zwei der „großen sechs“ Mitgliedstaaten. In den anderen großen Staaten, vor allem Deutschland und Frankreich, sind mit Parteien wie AfD (Deutschland), Front National (Frankreich), Bewegung 5 Sterne (Italien) und Podemos (Spanien) europakritische und –feindliche Kräfte dabei, die Parteienlandschaft drastisch zu verändern. Nächstes Jahr stehen Wahlen in Deutschland und Frankreich an. Es steht zu erwarten, dass die Gegner Europas vom Ergebnis des britischen Referendums profitieren werden. Marine le Pen, Vorsitzende des Front National, hat bereits angekündigt, im Falle eines Wahlsiegs innerhalb von sechs Monaten ein „Frexit“-Referendum einzuberufen. Vergleichbare Forderungen werden nun auch in anderen Mitgliedstaaten laut – es droht ein Dominoeffekt. Der Euroskeptizismus wird sich in vielen Mitgliedstaaten verstärken.
Auch die wirtschaftlichen Auswirkungen eines möglichen Austritts sollten nicht unterschätzt werden. Gut möglich, dass das Vereinigte Königreich stärker betroffen sein wird – aber auch die anderen EU-Mitgliedstaaten werden einer neuerlichen wirtschaftlichen Krise ins Auge blicken müssen. Ein wichtiger Handelspartner steht vor dem Austritt. Zahlreiche EU-Bürger, vor allem Osteuropas, sehen ihre Zukunft im UK gefährdet. Selbiges gilt aber auch für die 1,2 Millionen Briten, die in anderen EU-Staaten leben und arbeiten und somit von ihren Rechten als Unionsbürgern Gebrauch machen.
Zudem droht uns, ein verlässlicher Partner in der EU zu verlassen. Man mag das Vereinigte Königreich als streitbaren Krachmacher wahrnehmen: in der Umsetzung und Durchführung des EU-Rechts und der Politiken der EU gehört das Land zu den vorbildlicheren EU-Staaten.
Ein „Weiter-so“ darf es nun auf Ebene der EU nicht geben. Der frühere französische Präsident Nicolas Sarkozy gehörte zu den Ersten, die in den letzten Wochen eine Reform der Union angemahnt haben. Eine solche Reform erscheint in der Tat notwendig. Die EU muss verständlich werden, bürgernah, in der Lage, aktuelle europäische Probleme und Herausforderungen geeint und solidarisch angehen zu können. Zudem wird die Heterogenität der Staaten, die nach einem Austritt der Briten nur unerheblich geringer wird, stärker berücksichtigt werden müssen: vielleicht ist ein Europa der mehreren Geschwindigkeiten doch die Antwort auf die Herausforderungen der Gegenwart. Ob man sich nun tatsächlich gegen eine weitere Vertiefung der Integration sperren sollte, wie dies selbst von bekennenden Europäern mehr und mehr gefordert wird, sollte kritisch diskutiert werden.
Wer profitiert vom Ergebnis dieses Morgens? Populisten, EU-Skeptiker, Nationalisten, und das weltweit. Erste Stimmen sind bereits zu vernehmen, dass aus dem drohenden Nieder- oder Untergang Russland gestärkt hervorgehen könnte – so wie die EU in ihrer heutigen Form erst aus dem Untergang der Sowjetunion entstehen konnte. In jedem Fall werden die Auswirkungen des Referendums nicht auf Europa beschränkt bleiben. Auch in anderen Weltregionen gibt es Ansätze regionaler Integration. Nirgendwo sind diese so vertieft wie in Europa. In Südostasien beispielsweise steht man erst am Anfang einer Integration. Scheiterten wir Europäer, dies sendete ein äußerst negatives Signal in andere Regionen der Welt.
Wie geht es nun weiter? Zunächst: das Referendum ist rechtlich nicht bindend. Sein Ergebnis nun aber durch die Regierung von David Cameron zu ignorieren, wäre ein desaströses Signal an die Demokratie und würde gewiss eine Radikalisierung der EU-Gegner im Vereinigten Königreich bewirken. Somit ist zu erwarten, dass die Briten alsbald das Austrittsverfahren aus der EU in Gang setzen werden – welches es im Übrigen erst seit 2009 gibt. Nach einem entsprechenden Antrag der britischen Regierung müssen EU (aus den verbleibenden 27 Mitgliedstaaten) und UK zunächst versuchen, ein Austrittsabkommen auszuhandeln. Zwei Jahre haben sie dafür mindestens Zeit. Ob dies ausreichen wird, steht in den Sternen. Sinnvoll wäre ein Austritt zum Jahr 2019, wenn ohnehin Wahlen zum Europäischen Parlament stattfinden und eine neue Europäische Kommission eingesetzt wird. Führende EU-Politiker haben jedoch bereits angekündigt, dass die Verhandlungen sich durchaus bis zu sieben Jahre lang hinziehen könnten. Das Abkommen müsste dann noch von der Mehrheit der verbleibenden EU-Staaten, vom Europäischen Parlament und von den Briten selbst angenommen werden. Scheitert dies oder kommt ein Abkommen gar nicht zustande, könnten die Briten frühestens 2018 einseitig aus der EU austreten. Dann hätten sie jedoch im schlimmsten Fall keinerlei vertragliche Beziehungen mehr zur EU und wären völlig isoliert.
Möglicherweise – und entgegen aller Ankündigungen – werden wir in einigen Jahren auch ein neuerliches Referendum im UK sehen: „Wollen wir wirklich den Brexit tatsächlich?“ Junge Briten waren mehrheitlich für einen Verbleib in der EU. Es waren die Alten, welche noch das „große“ Britannien als Nationalstaat in guter Erinnerung haben, welche sich für den Austritt ausgesprochen haben. Vielleicht ist die öffentliche Meinung im UK in einigen Jahren eine ganz andere: wenn sich die wirtschaftlichen Auswirkungen eines drohenden Austritts bereits negativ zeigen, das Land politisch auseinanderbrechen zu droht und Jugendliche, die diesmal noch nicht stimmberechtigt waren, ihre Stimme berücksichtigt sehen wollen. Es wäre nicht das erste Mal, dass in EU-Staaten zur ein und derselben Materie zweimal abgestimmt wird.
Warum sich die Briten mehrheitlich gegen die Union ausgesprochen haben, warum Euroskeptizismus in Mode ist – das ist eine Frage, auf die es einen ganzen Strauß von Antworten gibt. Die multiplen Krisen, welche die Union derzeit betreffen, mögen ein Grund gewesen sein. Schwerer wiegt aber ein generelles Unkenntnis über die EU und was wir ihr und der europäischen Integration zu verdanken haben: Frieden vor allem, aber auch wirtschaftlichen Wohlstand. Mit anderen Worten: dass es uns so gut geht, haben wir nicht den Staaten selbst zu verdanken sondern dem großen europäischen Projekt. Es zu bewahren, ist daher eine Aufgabe, die wir jeden Tag aufs Neue in Angriff nehmen müssen. Bürgerinnen und Bürger müssen erkennen, was sie an Europa haben – und das nicht, wenn es zu spät ist, wenn man nicht mehr Teil des Ganzen ist oder wenn dieses aufgehört hat zu existieren. Wir müssen uns „Europas“ und seines Nutzens bewusst sein. Wir alle sind gefordert, Europa zu vermitteln. Wir müssen Europa kritisch diskutieren und unseren Beitrag leisten, die Integration voranzubringen. Bevor es zu spät ist.
Hoffentlich öffnet das Ergebnis des Brexit-Referendums die Augen der Europäer – und auch der Briten. Es ist anzunehmen, dass ein erheblicher Teil der Abstimmenden sich am 23. Juni nicht bewusst war, was sie eigentlich taten. Mit den Konsequenzen werden sie und werden wir zu leben lernen müssen.
Im Netz: www.eao-otzenhausen.de