3. Demokratiekonferenz

Von Frauenhass bis Verschwörungserzählungen: Rechtsextreme Szenen in einer demokratischen Gesellschaft

Tobias Ginsburg recherchierte 18 Monate im rechtsextremen Milieu in Deutschland und in den USA. In seinem Buch „Die letzten Männer des Westens“ beschreibt er das Erlebte. Diese Erkenntnisse hat hat er zur dritten Demokratiekonferenz auf die Bühne nach St. Wendel gebracht (Foto: Jean-Marc Turmes)

„Das Erstarken des Feminismus bedeutet das Ende der Nation und das Ende des Westens“ – Zitat Anders Behring Breivik – Oslo – rechtsextremistischer Massenmörder – 77 Tote – 2011

Ist unsere Demokratie in Gefahr? Kann sich unsere Geschichte wiederholen?

Im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie Leben!“ hatte der Landkreis St. Wendel in Kooperation mit dem Adolf-Bender-Zentrum zur 3. Demokratiekonferenz am Mittwoch, 29.06.2023, in das Kulturzentrum St. Wendel-Alsfassen eingeladen. Unser Landkreis ist seit August 2021 Partner des Programms auf kommunaler Ebene mit jährlich stattfindenden Demokratiekonferenzen. Anwesend waren neben Landrat Udo Recktenwald auch Hermann-Josef Scharf, Mitglied des Landtages, Stadtbürgermeister Peter Klär, die Vertreterinnen des Kreistages Martina Weiand, Marianne Broy und Andrea Paliot sowie Vertreter:innen des Adolf-Bender-Zentrums St. Wendel.

Ziele dieses Bundesprogramms sind die Förderung des zivilgesellschaftlichen Engagements, die Gestaltung von Vielfalt und die Vorbeugung von Extremismus mit einem Schwerpunkt auf der Förderung eines demokratischen Verständnisses bei der Jugend. Hierfür werden in unserem Landkreis Jugendforen dezentral in den einzelnen Gemeinden eingerichtet.

Landrat Udo Recktenwald

In einer bewegenden Ansprache schilderte Landrat Udo Recktenwald den Weg der Entstehung des Nationalsozialismus im ehemals „roten“ Thüringen, wo die Verfassung der Weimarer Republik zuvor verabschiedet worden war. Im Reichstag der Weimarer Republik wurde damals die NSDAP zunächst als unbedeutend eingestuft. Doch bereits 1930 zieht sie als Partei in Thüringen in den Landtag ein. Hindenburg ernannte Hitler im Januar 1933 zum Reichskanzler. Als demokratisch gewählte Partei gewinnt die NSDAP an Stärke und erhält mehr und mehr Zulauf von der Bevölkerung aufgrund Unzufriedenheit wegen Weltwirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, Schwächen der demokratischen Parteien. Es kommt zur Radikalisierung. Landrat Udo Recktenwald stellt einen Bezug her zur aktuellen Situation in Thüringen: Der demokratisch gewählte AFD Politiker Robert Sesselmann, ein enger Vertrauter von Björn Höcke, wurde kürzlich in das Amt des Landrates in der kleinen Stadt Sonneberg knapp vor dem CDU Kandidaten Jürgen Köpper gewählt. Der Überhang an Krisen in der heutigen Zeit wie Energiekrise, Migration, Krieg in Europa, Inflation und die erst jüngst überstandene Pandemie ließen Verschwörungsideologien „aufflackern“, die sich mehr und mehr – vor allem über Social Media Kanäle und YouTube – verbreiteten und in den Köpfen der Bürger manifestierten. Die Unzufriedenheit der Bürger, Gruppierungen von Reichsbürgern und Verschwörungstheoretikern können unser Demokratiesystem schwächen.

Mahnendes Zitat Recktenwald: „Wenn wir mit Blick auf die nationalsozialistische Vergangenheit und unser stetes Bemühen um Erinnerung, Nichtvergessen, Aufklärung und Ermahnen ungläubig gefragt werden, wie konnte dies damals überhaupt passieren, sowas kann es doch heute nicht mehr geben, dann gilt mit Verweis auf die Wahl der rechtsradikalen AFD in den Bundestag, in die Landtage und die kommunalen Parlamente und auf die Wahl eines Vertrauten von Björn Höcke zum Landrat, der ganz klare Hinweis: GENAU SO KONNTE ES PASSIEREN!“

Bürgermeister Peter Klär

Der Landrat schwört demokratisch denkende Menschen und die demokratischen Parteien auf Zusammenhalt ein. Es sei immens wichtig, die Unzufriedenheit, die Sorgen und Ängste der Bürger ernst zu nehmen und fremdenfeindlichen Einflüssen entgegenzuwirken für den Erhalt unserer Demokratie, der Menschenwürde und der Menschenrechte. Die Bürger müssen wieder Vertrauen in die demokratischen Parteien gewinnen.

Bürgermeister Klär bekräftigt die Aussagen seines Vorredners und geht auf die Reichsbürger ein, die den Holocaust und die rechtmäßige Existenz unserer Bundesrepublik Deutschland mit ihrer Verfassung sowie der Gerichtsbarkeit in unserem Land leugnen. „Alle Grundprinzipien unserer freiheitlichen Demokratie stehen auf dem Spiel, wenn wir uns nicht frühzeitig und offen diesen Bestrebungen entgegenstellen. Es braucht Bildung, es braucht Aufklärung, es braucht positive Erfahrungen mit demokratischen Prinzipien,“ so Klär

Referent Tobias Ginsburg: Globaler Rechtsruck seit 12 Jahren

Tobias Ginsburg, *1986, studierte Dramaturgie, Literaturwissenschaft und Philosophie, ist Autor und Regisseur. 2021 erschien sein neuestes Buch „Die letzten Männer des Westens“. Im Vorfeld recherchierte er 18 Monate im rechtsextremen Milieu in Deutschland und in den USA. Hierzu schleuste er sich in Gruppierungen und Netzwerke von Fanatikern mit vorwiegend rechter Gesinnung ein. Sein Ziel ist zu erläutern, warum Menschen sich in rechtsextreme Kreise begeben und wie es möglich ist, diese eventuell wieder für die Demokratie zurückzugewinnen.

Referent Tobias Ginsberg

Ginsburg spricht über den sogenannten Rechtsruck in Ländern wie Schweden, Italien, den USA und sogar in Israel (Tobias Ginsburg ist jüdischer Herkunft), der sich bereits vor 12 Jahren abzeichnete.

„Das Erstarken des Feminismus bedeutet das Ende der Nation und das Ende des Westens“ – Zitat Anders Behring Breivik – Oslo – rechtsextremistischer Massenmörder – 77 Tote – 2011

„Die Männer des Westens müssen endlich wieder echte Männer werden“ – Zitat Brenton Tarrant – Christ Church – rechtsextremistischer Massenmörder – 51 Tote, 50 Verletzte (teilweise schwer) – 2019

„Ich glaube, der Holocaust hat nie stattgefunden. Der Feminismus ist an der sinkenden Geburtenrate im Westen schuld, die die Ursache für die Massenimmigration ist und die Wurzel all dieser Probleme ist der Jude“ – Zitat Stephan Balliet – Halle – 2 Morde, 68 versuchte Morde

(Anmerkung der Redakteurin – Verweis auf den aktuellen t-online-Bericht von Niclas Staritz:
Sexistisch und rechtsextrem „Incels“ – Der gefährliche Frauenhass junger Männer)

Ginsburg warnt davor, Verschwörungstheoretiker, Reichsbürger und extreme Gruppierungen nicht ernst zu nehmen. Mittlerweile treten diese Ideologien im Bekannten- Familien- und Freundeskreis auf. Und: Rechtsextremismus sei optisch nicht mehr erkennbar wie noch vor Jahren als Springerstiefel und das Tragen einer Glatze quasi die Markenzeichen für eine rechtsradikale Gesinnung gewesen wären.

Während seinen Recherchen wird Ginsburg Zeuge der Denkweisen von rechtsextremen Studentenverbindungen, sogenannten Burschenschaften und anderen rechtsextremistischen Gruppierungen, in denen der Frauenhass offen ausgelebt und formuliert wird. Die liberale und fortschrittliche Haltung des Westens wird angeprangert. Von Ginsburg nachgesprochenes Zitat: „In Wirklichkeit wird der Westen mittels linker Propaganda geflutet wie politischer Korrektheit, Feminismus und Homolobby. In Wahrheit ist dies alles nur Kulturrassismus, ein Krieg gegen die Familie, den Mann, das Volk. Frauen werden als Kanakenweibchen bezeichnet, Frauen, die mit nicht arischen Männern schlafen. Frauen seien biologisch dazu prädestiniert, mit den stärksten Männern zu schlafen.“

Worum geht es? Es geht um Männlichkeit, um Geburtenraten, um ein starkes Deutschland! Es geht darum, dass den Männern die Stärke genommen wird, weil Frauen als Konkurrenten auftreten. Dem Mann wird suggeriert (und vor allem auch jungen Männern), dass er an Macht verliert, weil die Frau stark geworden ist. Der Mann verliert Privilegien. Und wenn die Frau um Gleichberechtigung kämpft, hat der Mann plötzlich sehr viele Feindbilder. Ginsdorf zitiert Höcke: „Wir müssen wieder rechte Männer werden, denn nur wenn wir Männer sind, sind wir wehrhaft, meine Freunde!“

Diversity – people of colour haben plötzlich auch eine Stimme?!

Zitat Ginsdorf:Angenommen, die Leute glauben, dass dieser niederschwellige Kampf für Gleichberechtigung, Diversity, Schwulen- und Lesbenrechte eine wahre Bedrohung darstellen, ist das reaktionäre und rechtsreaktionäre und rechtsextreme Angebot immens appetitlich.“

Die Begründung sei immer dieselbe. Ginsburg erklärt den gezielt und gesteuert niederschwelligen Einstieg in diese Denkweise, damit die normale Bevölkerung erreicht werden kann. Und dahinter stehen Kampagnen. Ginsburg erläutert ein Beispiel aus den USA, wo der faschistische Berater von Donald Trump, Steve Bannon, einen Betrag von 50 bis 100 Mio. US Dollar erhielt, um rechtspopulistische antifeministische Kampagnen „auf den Weg zu bringen“. Und man möge den Namen Steve Bannon googlen und seine gezielte rechtspopulistische Einflussnahme auf europäische Politiker erkennen – wie z. B. die Nähe zu Marie Le Pen (Anmerkung der Redakteurin) Laut Ginsburg fehlt es an Bildung hinsichtlich der Bedeutung von Faschismus und Nazismus.

Verschwörungstheorien hatten mit Corona ihren Durchbruch. Zuvor war der Begriff der Reichsbürger kaum bekannt. 2017 – Polizistenmord durch einen Reichsbürger mit immensem Waffenarsenal. Bei einer Razzia tötete der Reichsbürger einen Polizisten, verletzte drei weitere schwer. Reichsbürger finden sich in allen Schichten. Laut Ginsburg werden alle Reichsbürger zusammengehalten von einer einzigen Verschwörungserzählung: „Wir alle, das deutsche Volk, sind Opfer einer Weltverschwörung. „Die wollen uns kaputt machen, die wollen uns das Geld wegnehmen, die wollen unsere Wirtschaft drosseln…“ Die BRD sei Teil dieser Verschwörung. Sie sei fremdgesteuert und kein autarker souveräner Staat. Sie sei in der Hand der Alliierten. Die Behauptung, dass wir von den Amerikanern gesteuert werden, stellte 2016 auch der neue Landrat von Sonneberg in Thüringen in einer Rede auf. Wo kommt dieses gedankliche Konstrukt her? Es basiert darauf, dass Deutschland 1945 den Krieg verlor und Nazis sich weigerten, diese Niederlage wirklich anzuerkennen und an dem alten deutschen Reich festhielten. 1947 gründeten sich in der jungen BRD zwei Parteien, die Ämter mit Nazis besetzten und deren Ziel war, das deutsche Reich wieder aufzubauen. Die Ideologien der Reichsbürger werden auch von Neonazis geteilt und mittlerweile sind sie auch bei ganz normalen Bürgern angekommen, die das Gefühl haben, dass etwas mit „denen da oben“ nicht stimmt.

Wie konnte es zu Verschwörungstheorien kommen?

Während einer Anti-Corona-Demo hatte Ginsburg Kontakt mit einer Demonstrantin, die ihm gegenüber ihre Ängste und ihre Sichtweisen schilderte: Angst vor Zwangsimpfungen, Angst vor den dreckigen Gaunereien der WHO, Angst vor dem Implantieren von Bill Gates‘ Mikrochips im Rahmen der Impfkampagnen und Schlimmeres, Angst davor, die Freiheit zu verlieren. Weiterhin erklärt die Demonstrantin Ginsburg gegenüber, dass es keine Pandemie gebe, sondern nur eine Grippe, dass es keine Klimakrise gebe, sondern nur Wetter. Ginsburg plädiert, diese Ängste ernst zu nehmen. Aus seinem Buch „Die Reise ins Reich“: Wieviel „Weltuntergang“ kann man denn aushalten? Wir haben nur das EINE Leben auf dem EINEN Planeten und dann hören wir, dass die Erde bald verbrennt, an einer Ecke schon schmilzt und jetzt wird uns gesagt, dass der Planet von einem Virus umweht wird, dass Menschen zu Hunderttausenden sterben werden, und wir fühlen uns hilflos. Was können wir schon groß machen – Flaschen recyclen und Masken tragen, weniger fliegen und gründlich die Hände waschen…. Und dann starren wir verständnislos auf die Bilder von brennenden Wäldern, schmelzenden Gletschern, von Leichensäcken in Wuhan und dann überall. Die Welt wird zum schlechten Katastrophenfilm! Das Gefühl – unser Handlungspotential ist lächerlich klein. Es fühlt sich alles so irreal an. Ginsburg: „Kann ich es der Demonstrantin verübeln, dass sie für sich beschließt, weder an Virus noch an Klimawandel zu glauben? Sie kreiert sich ihre Machtlosigkeit erträglicher, teilt ihre Welt ein in „Gut und Böse“. So war es immer. Verschwörungstheorien blühten auf während und nach Katastrophen, Kriegen, Krisen, Revolutionen und bei Ausbruch von Seuchen.“

Wie geht man mit Reichsbürgern, Extremisten, Verschwörungstheoretikern um?

In Familien, im Freundes- bzw. Bekanntenkreis wird es immer wahrscheinlicher, mit Ideologien von Reichsbürgern, Rechtsextremisten und Verschwörungstheoretikern konfrontiert zu werden. Ginsburg empfiehlt im Umgang mit Menschen, um die man sich sorgt und die nahe stehen, präsent und freundlich zu bleiben und zu versuchen, argumentativ einzuwirken, dabei eine klare Haltung zu wahren. Es wird schwer werden, je tiefer jemand in den Ideologien steckt und viel Kraft kosten. Auch gibt es keine Garantie, ein Umdenken zu bewirken, weil immer wieder neue Ideologien als Gegenargumente gebracht werden. Und sollte irgendjemand die Idee äußern, zur Aufklärung junger Menschen in der Schule ein neues Fach kreieren zu müssen, entgegnet Ginsburg knapp: „Wir brauchen keine neuen Schulfächer, wir haben das Fach Geschichte“.

Wenn Zuversicht „unerträglich“ gefährlich wird

Ginsburg sieht sie nicht als Pessimisten. Er hebt den sozialen Fortschritt in unserem Land innerhalb der letzten 20, 30 bis 40 Jahre hervor. Fortschritte hinsichtlich der Gleichberechtigung der Geschlechter, unserer Meinungsfreiheit, der sexuellen Selbstbestimmung. Und dann gibt es diese für Ginsburg unerträgliche Zuversicht, die davon ausgeht, dass sich schon alles richtet. Ginsburg gibt zu bedenken, dass hinter den rechtsextremen Kampagnen, die Hass gegen Frauen und Queere streuen und bewusst Verschwörungsideologien verbreiten, transnationale Netzwerke mit finanzieller Unterstützung derer stünden. Dahinter steckten enorme monetäre Zuwendungen. Und es sei Wachsamkeit geboten.

 

Empfohlene Bücher des Autors – jeweils erschienen im Rowohlt Verlag:

Die Reise ins Reich

Die letzten Männer des Westens (Spiegel Bestseller)

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