Interviewserie zu „Black Lives Matter“-Protesten: Teil 2 – „Wir nennen es ‘driving while black’”

Unsere Redakteure Christian und Thomas Funck sprachen mit US-Priester und Bürgerrechtler Father Raymond East über die „Black Lives Matter“-Proteste in den USA.

In Teil 2 der Interviewserie sprechen wir mit Father Ray über seine persönlichen Erfahrungen mit der Polizei. Teil 1 kann man hier lesen.

wndn.de: Viele Leute, auch Barack Obama, sagten, dass jeder Afroamerikaner schon schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht habe. Sie auch?

Father Ray: Oh meine Güte, ja. Und selbst jetzt, wo ich den Priester-Kollar trage, werde ich angehalten – regelmäßig.

Und Sie werden nur angehalten, weil Sie schwarz sind?

Ja, und wir nennen es “driving while black” [Anm.: „Driving while black“ ist eine Anspielung an “Driving while intoxicated”, die gesetzliche Bezeichnung, die in einigen US-Gerichtsbarkeiten für das Fahren unter Alkoholeinfluss verwendet wird. Das Wortspiel impliziert, dass ein Autofahrer von einem Polizeibeamten hauptsächlich aufgrund rassistischer Vorurteile und nicht aufgrund einer sichtbaren Verletzung des Verkehrsrechts angehalten werden kann.]

Von den sieben Kindern meiner Eltern wurden wir alle aus unvernünftigen Gründen angehalten. Selbst in den letzten zehn Jahren hatten wir in verschiedenen Staaten des Landes sehr ernsthafte grundlose „Stops“, in denen wir sehr ängstlich waren.

Mein letzter passierte in New Jersey. Ich wollte meinen Onkel besuchen. Und sie hielten mich zwei Stunden lang fest und beschuldigten mich im Auto bei Kälte und Schnee. Das Problem war, dass ich einen schwarzen Hoodie anhatte, weil es sehr kalt war.

ICH WAR GEFANGEN UND ICH WAR SEHR ÄNGSTLICH”

Provisorischer Schutzzaun am Lafayette-Platz vor dem Weißen Haus: „8 Minuten und 46 Sekunden [Anm.: für diese Dauer hatte der Polizist sein Knie auf dem Hals von George Floyd]. Wie viele werden nicht gefilmt?“ (Foto: Funck)

Glauben Sie, es wäre schlimmer, wenn Sie kein katholischer Priester wären?

Oh, meine Güte, es wäre zehnmal schlimmer. Aber nicht in diesem Fall. Es war in einem Teil von New Jersey, der nicht sehr katholisch ist. Wenn wir in Nord-New Jersey wären, würden sie sagen: „Father, wir haben einen Fehler gemacht.“

Sie mussten zwei Stunden in Ihrem Auto bleiben?

Zwei Stunden lang und schließlich gab es drei Polizeiautos und sechs Beamte, kein Verfahren und ein gemeiner Beamter hatte Autorität über die anderen Leute. Er behauptete, dass es in dieser Nachbarschaft Einbrüche gegeben habe und dass jemand gesucht worden sei, der einbrechen könnte.

Es war spät – gegen 3 Uhr morgens, weil ich erst um 22 Uhr in Washington abgefahren war. Sie wussten, dass ich Priester bin, aber es machte keinen Unterschied, weil ich schwarz war. Wenn ich ein weißer Priester gewesen wäre, wäre ich niemals angehalten worden.

Die verdächtige Person, die den Einbruch begangen hat, war ein Afroamerikaner oder kannten sie die Hautfarbe nicht?

Das ist tatsächlich eine sehr häufige Begründung.

Ok, Sie denken nicht, dass das stimmte?

Es ist eine Ausrede: „Wir dachten, da wäre jemand, der gefälschte 20-Dollar-Scheine nutzt.“ „Wir dachten, es würde jemand in Häuser einbrechen.“

Dieses „wir dachten“ ist eine sehr häufige Begründung, jemanden anzuhalten. Sobald sie diese Begründung einsetzen, haben sie das Recht, Fragen zu stellen und mich so lange aufzuhalten. Und ich sagte: „Ich bin ein alter schwarzer Mann“. Es war furchteinflößend.

Hatten Sie Angst?

Oh meine Güte, ja. Weil es spät in der Nacht war und es gab keinen Verkehr auf der Straße.

Und keine Kamera …

Keine Kamera, ich war gefangen und ich war sehr ängstlich.

Kennen Sie irgendeinen weißen Amerikaner, der eine ähnliche Situation erlebt hat?

Es würde niemals passieren.

Es passiert nie?

Oh meine Güte. Warum sollte man jemanden anhalten, wenn er von außerhalb ist mit DC-Nummernschild und er ein alter Mensch ist? Es ist verrückt. Wo alles dafürspricht, dass er nicht der Einbrecher ist. Das ist die Ungerechtigkeit. Und die Tatsache, dass es so routinemäßig passiert. Wenn ich angehalten werde, frage ich: „Officer, was ist los?“ Und dann nehmen sie sich immer Zeit und kommen nach 20 Minuten zurück und sagen: „Nun, die Lichter Ihres Nummernschilds auf der Rückseite sind defekt.“

Sie sagen also, das Verhalten der Polizei sei willkürlich. Gibt es irgendetwas, was sie tun können? Gibt es einen Rechtsbehelf?

Es wird so selten gemacht. Zuerst muss man zur Gerichtsbarkeit gehen. Und man muss lange warten. Und wenn sie dich anhören würden, würden sie dich nicht ernst nehmen.

„DIE ÜBERWIEGENDE MEHRHEIT DER POLIZEI IST GUT – ABER ES HÄNGT DAVON AB, WER DU BIST”

Bau-Minister Dr. Ben Carson (rechts): „Die überwiegende Mehrheit der Polizisten ist wunderbar.“ (Screenshot)

Bau-Minister Dr. Ben Carson sagte in einem Interview mit CNN: „Die überwiegende Mehrheit der Polizisten ist wunderbar.“ Stimmen Sie dem zu?

Wenn die überwiegende Mehrheit wunderbar wäre, warum wurde ich dann ohne Grund für zwei Stunden angehalten. Sechs Polizisten waren da. Wenn die überwiegende Mehrheit wunderbar ist, warum sagte keiner der Polizisten: „Ey, Officer Freeman, hören Sie auf damit. Was tun Sie?“

Waren die sechs Polizisten dort alle weiß?

Einer der Polizisten war schwarz. Er war im dritten Auto. Er konnte nichts sagen. Es ist schwer für ihn, ein schwarzer Polizist in einer weißen Polizeieinheit zu sein.

Wegen des sozialen Drucks?

Absolut. Ja, die überwiegende Mehrheit der Polizisten ist gut – aber es hängt davon ab, wer du bist. Denn sie sind nicht gut, wenn du schwarz bist.

Dr. Ben Carson ist aber auch Afroamerikaner. Warum sagt er, dass die überwiegende Mehrheit der Polizisten gut ist?

Weil er für den arbeitet, für den er arbeitet. Er würde von Präsident Trump gemobbt werden und wahrscheinlich seinen Job verlieren.

Zum Beispiel wurde ich viele Male in Delaware angehalten. Und ich war immer sehr vorsichtig und ich bin älter. Wenn ich ein College-Student wäre: Himmel, hilf mir. Ich wurde viele Male in Delaware angehalten, wo mir die Polizei ein oder zwei Meilen auf der Straße folgte. Und dann haben sie mich angehalten und mich dazu gebracht, meinen Ausweis herauszugeben und mich mindestens fünfzehn Minuten lang festgehalten.

Die Mehrheit der Polizei in Delaware ist vielleicht nett zu Weißen. Prince George County war so viele Jahre lang schrecklich. Selbst wenn sie schwarze Polizisten hatten, passierten diese Dinge immer noch. Schwarze Polizisten müssen sich an der Kultur beteiligen, um akzeptiert zu werden. Es ist so schwer, die Kultur zu ändern. So viele Polizisten in den Vereinigten Staaten sind weiß: 77 Prozent.

Haben Sie all diese Probleme auch mit der Polizei hier in Washington, DC? In Washington, DC sind 46 Prozent der Bevölkerung Afroamerikaner. Es ist die größte ethnische Gruppe.

Es ist die Kultur. Ich denke, in Washington, DC ist es viel besser, weil es so viele Afroamerikaner in der Bevölkerung und in der Polizei gibt. Dann ändert sich die Kultur ein wenig. Und dann gibt es nicht genug weibliche Polizisten. DC macht es viel besser. Und wir hatten eine Frau als Polizeichef. Und sie war großartig und sehr respektiert. Aber die Kultur muss sich ändern.

„JIMMY MUSSTE MIT DEN JUNGS REDEN. ER SAGTE IHNEN, WAS SIE ZU TUN HABEN”

Protestschilder in Washington, DC: „Nicht schießen“ („Don’t shoot“). „Meine Hautfarbe ist kein Verbrechen“ („My skin color is not a crime“). Viele afroamerikanische Eltern haben mit ihren Kindern „das Gespräch“, um sie auf Begegnungen mit der Polizei vorzubereiten (Foto: Funck)

Ich habe gehört, dass viele afroamerikanische Eltern mit ihren Kindern „das Gespräch“ haben, um sie auf Begegnungen mit der Polizei vorzubereiten. Stimmt das?

Oh meine Güte. Mein Bruder James, er ist groß, er ist 1,90 m. Und er hat zwei Söhne, sie sind jetzt 1,93 m und 1,95 m. Und sie wohnen in einem politisch sehr konservativen Gerichtsbezirk in Südkalifornien. Und Jimmy musste mit den Jungs reden. Er sagte ihnen, was sie zu tun haben. Und sie werden immer noch angehalten und festgehalten.

Vor sieben Jahren wurden sie an Thanksgiving vor ihrem eigenen Haus festgehalten. Es kamen mehrere Polizisten. Meine Schwester kann sehr gut deeskalieren. Sie ging raus und rief: „Hey Leute! Wie geht es Ihnen! Frohes Thanksgiving! Was ist los?“ Es ist nicht nur eine Anekdote, es ist die Regel.

Hier geht es weiter zu Teil 3

Das ist Father Ray:

Monsignore Father Raymond East (69) ist ein römisch-katholischer Priester und Prälat. Er ist Pfarrer der Pfarrei St. Teresa von Avila im Washingtoner Stadtteil Anacostia. Etwa 90 % der Einwohner von Anacostia sind Afroamerikaner. Father Ray ist ehemaliger Direktor des “Office of Black Catholics” und “Vikar für Evangelisierung” für das Erzbistum Washington, DC.

Er wurde in Newark (New Jersey) geboren, wuchs mit sechs Geschwistern in San Diego (Kalifornien) auf und machte an der Universität von San Diego einen Abschluss in Business Administration. Er arbeitete bei der National Association of Minority Contractors in Washington, DC. 1981 wurde er zum Priester geweiht.

Der Kolumnist der New York Times, Bestsellerautor David Brooks, beschrieb ihn als einen unglaublich lebensfrohen (“insanely joyful”) Mann: „Allein in seiner Gegenwart zu sein, beflügelte mich für ein paar Wochen.“

Katholische Pfarrkirche St. Teresa von Avila in Anacostia, Washington, DC (Foto: Funck)

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