Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat viele Menschen erschüttert und fassungslos gemacht. Es ist ein Gefühl der Ohnmacht, zusehen zu müssen, wie ein friedliches europäisches Land zerstört und die Menschen, die in ihm leben, vertrieben, verletzt, vergewaltigt oder gar ermordet werden. Ein niederschmetterndes Gefühl, selbst nichts gegen diesen sinnlosen Krieg tun zu können, außer abwarten, hoffen, beten. In Matthias Schäfer aus Tholey löst dieser Zustand eine innere Unruhe aus, gegen die er tätig werden muss. Er fasst seine Gedanken und Gefühle in einem Text zusammen, bringt aufs Blatt, was ihn bewegt. „Das mach ich immer so, wenn etwas meinen Kopf zum Zerplatzen bringt“, schildert er bei der Buchvorstellung. Daraus entsteht die Idee, ein Prospekt mit zehn oder 20 Texten herauszubringen und den Verkaufserlös einem guten Zweck zukommen zu lassen. Am Donnerstag, 02.06.22, wird das Ergebnis dieser Idee in den Räumlichkeiten der Kreissparkasse St. Wendel präsentiert: Eine Anthologie, ein Buch mit 100 Texten für den Frieden, verfasst von beinahe 100 verschiedenen Personen. Alle vermitteln sie die gleiche Message: Sie verachten den Krieg und sehnen sich den Frieden herbei. Der gesamte Verkaufserlös kommt ukrainischen Kinder zugute.
Als der Logopäde Matthias Schäfer bei Thomas Störmer vom Verlag Edition Schaumberg anruft, um ihm seine Idee zu präsentieren, ist dieser zunächst nicht sehr beeindruckt. „Jo, wieder einer, der anruft“, erinnert er sich an den ersten Gedanken, nachdem er den Hörer abhebt. Aber es ist nicht einfach “wieder einer, der anruft“, es ist jemand mit einer sehr sinnvollen und rührenden Idee. Störmer nimmt ihn nach dem zweiten Satz schon ernst, findet die Idee „super“ und kann sich sofort vorstellen, Matthias bei seinem Vorhaben zu unterstützen. Also holt er die Buchautorin Katja Bohlander-Sahner mit an Bord. Geplant ist zunächst, um die 20 Texte zusammenzubekommen. Bohlander-Sahner gibt in ihrem Netzwerk bekannt, dass sie Texter für das Projekt sucht, startet einen Aufruf in den Sozialen Medien. „Jeder hat sich hilflos gefühlt und wollte was tun, viele haben dann was getan und einen Text geschrieben“, erinnert sich die Autorin. Kurze Zeit später kommt dann der Anruf, mit dem ihr mitgeteilt wird, dass das Buch „100 Texte für den Frieden“ heißen wird.
Dass sie viele Menschen finden würden, die einen Text beitragen, daran haben Störmer und Bohlander-Sahner nicht gezweifelt, dass allerdings innerhalb weniger Tage fast 100 Leute zusammenkommen, hat sie dann doch überrascht. Ein Buch zu schreiben, dauere ungefähr so lange wie eine Schwangerschaft, erklärt Störmer. Im Schnitt sitze man rund neun Monate an einem Buchprojekt, bis es reif für den Druck sei. „100 Texte für den Frieden“ braucht nur wenige Wochen. Am 23. März erreicht es die Vordruckstufe, am 26. April kommen die gedruckten Exemplare beim Verlag an. Verkaufsstart ist der 02. Mai. Seitdem gehen bis zur Buchvorstellung in St. Wendel am 02. Juni 444 Exemplare über die Ladentheke. „Wir haben in einem Monat 15.280 Euro mit dem Verkauf des Buches eingenommen“, berichtet Störmer. Nach Abzug aller Kosten bleibe bereits ein Gewinn von 6.060,- Euro. Der gesamte Gewinn wird Kindern aus der Ukraine gespendet.
Insgesamt 96 Autorinnen und Autoren wirken an dem Werk mit, das Störmer als „historisch relevant“ bezeichnet, da es „ausdrückt, dass 96 Menschen zu Beginn 2022, als der große Schatten aus dem Osten auf Europa fiel, kraftvolle Gefühle hegten und bereit waren, mit ihren Worten ein Zeichen zu setzen.“ Unter ihnen befinden sich namhafte Größen aus Kunst und Politik, Freunde, Bekannte und Nachbarn. „Alle Namen sind gleichgroß geschrieben mit derselben Schrift, ganz egal, wer den Text geschrieben hat“, betont Bohlander-Sahner. Die jüngste Autorin ist neun Jahre alt, die älteste ist bei der Buchvorstellung dabei und wird ihren Text persönlich vortragen. Sie hat als kleines Mädchen die Bombennacht in Dresden erlebt – davon handelt auch ihr eindrucksvoller und ergreifender Text.
Und Matthias? Der ist mächtig stolz. „Ich hätte niemals gedacht, dass es so groß wird. Aber ohne die anderen Menschen hätte ich genau eine Din A4 – Seite und einen Text“ betont er. „Ich will einfach noch mal danke sagen an alle anderen, die sich beteiligt haben und an alle Menschen, die meine Idee so großartig umgesetzt haben.“
Fünf Autorinnen und Autoren tragen an diesem Abend ihre Texte persönlich vor. Matthias beginnt mit seinem: „Wenn“. Er handelt von dem, was man sich in solch einer tragischen Ausnahmesituation, wie dem Krieg, wohl am meisten wünscht: Normalität. Kinder, die ohne Angst in den Gassen spielen. Mütter, die ihren Söhnen vor der Arbeit einen Abschiedskuss geben. Männer, die einfach nur Männer sind, und keine Soldaten…
Die Stimmung im Saal verändert sich. Die Menschen wirken nachdenklich, fast bedrückt. So sehr man sich mit der Zeit an den Gedanken gewöhnt hat, dass Krieg herrscht, so sehr erinnert der Text daran, was sein Beginn in uns ausgelöst hat. Die Hilflosigkeit, die Fassungslosigkeit, die Trauer, das Unverständnis. Er erinnert uns daran, dass der Krieg grausam ist für die Menschen, die am meisten unter ihm leiden, dass ein normales Leben für Millionen von Menschen, die von ihrem Zuhause vertrieben werden, nicht mehr möglich ist und für lange Zeit nicht mehr möglich sein wird.
Nach Matthias tritt Christa Klein vor das Publikum. Sie ist vor dem zweiten Weltkrieg in Ostpreußen geboren. Ihr Text handelt von ihrem berührenden Schicksal, ihrer persönlichen Kriegserfahrung, an die sie sich offenbar noch sehr gut erinnern kann. Auf der Flucht vor Bombeneinschlägen, auf der Flucht von einem Ort, der einst ihr Zuhause war. Schnell kommt der Gedanke auf, dass just in diesem Moment Kinder in Europa die gleichen Erfahrungen machen müssen, wie sie als kleines Kind.
Der Gründerberater David Hauck trägt seinen Text ähnlich wie einen Poetry Slam vor. Er ist eine Provokation an Waldimir Putin, den Kriegsverbrecher. Nüchtern, ehrlich und geht unter die Haut: „Für Kriegsverbrecher gibt es keine Fegefeuer, sie fahren direkt in die Hölle.“
Die studierte Biologin Martina Berscheid versinnbildlicht, wie irrelevant Themen werden, die den Alltag bisher beherrschen, etwa ein scheinbar nicht enden wollender Nachbarschaftsstreit. Alle Streitthemen verblassen, als der Krieg ausbricht. Die Nachbarn beschließen, sich zu versöhnen und gemeinsam für den Frieden zu demonstrieren.
Der Anwalt Olaf Jäger beschreibt eine andere Sicht auf den Krieg: eine juristische. Er erläutert die Regeln des Kriegs. Das macht noch mal deutlich, dass nicht abgestritten werden kann, dass die Ukraine und die in ihr lebenden Menschen einem grausamen Kriegsverbrecher in die Hände gefallen sind.
Das sind nur fünf der 96 Autorinnen und Autoren, die ihre kraftvollen Gefühle in Form von Texten in diesem Buch verewigen. Sie geben einen Vorgeschmack darauf, was einen in „100 Texte für den Frieden“ erwartet und doch lösen ihre Texte allein schon starke Emotionen aus. Musikalisch begleitet wird die Veranstaltung von der Band „Brillant“. Mit seinen selbstgeschriebenen Friedensliedern versetzt Jürgen Brill mit seiner Band die Anwesenden in eine nachdenkliche und gleichwohl hoffnungsvolle Stimmung. Dem Buch „100 Texte für den Frieden“ hat er einen eigenen Song geschrieben: „Denken heißt erschaffen“. Dazu sagt der Liedermacher: „Matthias hat gedacht, er will dieses Buch machen und hat es erschaffen – jetzt müssen wir alle ‚Frieden‘ denken“.
Das Buch ist für 20,- Euro im Buchhandel sowie im Online-Shop des Verlags Edition Schaumberg erhältlich. Der Erlös kommt via „Herzenssache“ (SR/SWR) ukrainischen Kindern zugute. Wer das Projekt darüber hinaus finanziell unterstützen möchte, kann auf das Treuhandkonto bei der KSK St. Wendel spenden: IBAN DE 71 5925 1020 0120 5093 93.