Seit Mai 2018 ist die Tholeyer Abteikirche wegen umfangreicher Sanierungsarbeiten geschlossen. Die Kirche wird u. a. einen Innenanstrich, eine neue Orgel, eine neue Innenbeleuchtung und neue Fenster bekommen. Die neuen Hauptchorfenster werden von Gerhard Richter entworfen – dem weltweit größten Kunststar unserer Zeit. Seine Werke sind auf dem Kunstmarkt die teuersten eines lebenden Künstlers. Mit den neuen Richter-Fenstern wird bald ein herausragendes Richter-Kunstwerk für jedermann in der Abteikirche zu besichtigen sein. Es ist der vorläufige Höhepunkt einer erstaunlichen Entwicklung. Denn vor zehn Jahren sah die Zukunft des ältesten Klosters Deutschlands noch düster aus.
Von Christian Funck und Thomas Funck
Als der frühere Spitzenkoch und jetzige Abt Mauritius Choriol 2008 die Leitung des Tholeyer Klosters übernahm, war die Zukunft und der dauerhafte Bestand der Abtei St. Mauritius ungewiss. Makarios Hebler war nach 23 Jahren als Abt zurückgetreten. Die finanzielle Situation war schwierig. Zudem hatte es seit Jahren keine Neueintritte mehr gegeben und mehrere Mönche waren altersbedingt pflegebedürftig.
2009 begann der Tholeyer Konvent unter Mauritius Choriol mit der Sanierung sämtlicher Abteigebäude. Das Geld hierfür stammte aus dem Verkauf von etwa 80 Hektar Land, vom Förderverein, von Sponsoren sowie aus öffentlichen Mitteln. Zunächst wurde das Gästehaus St. Lioba modernisiert und erweitert. Dann wurden der Barockgarten der Abtei samt Teehaus sowie das barocke Kapitelsaal-Gebäude (Ostflügel) erneuert. Im Kapitelsaal-Gebäude entstand das neue Dr. Petrus Borne-Zentrum. Als dessen Leiter kam der heutige Prior der Abtei, Pater Albert Bagood, der zuvor als Professor in Rom gelehrt hatte, nach Tholey.
Anschließend wurden im barocken Lenoir-Bau (Westflügel) und im Pfortenbau (Nordflügel) die Mönchszellen renoviert. Die erneuerten Zimmer werden heute nicht nur von den Mönchen, sondern auch von jährlich mehreren Dutzend Menschen genutzt, die im Rahmen eines „Kloster auf Zeit“ in Tholey ihren Urlaub verbringen.
Auf dem „Schaumberger Hof“, der ebenfalls der Abtei gehört, befindet sich seit einigen Jahren die saarländische Aufnahmestelle für minderjährige Flüchtlinge. Auf dem Gelände des ehemaligen Schwesternhauses entsteht ein Kurzzeitwohnheim der Lebenshilfe für schwerkranke Kinder.
Vor einem Jahr kauften die Mönche die Abteikirche zurück, die seit 1806 im Eigentum der Pfarrgemeinde gestanden hatte. Mit den Arbeiten an der Kirche hat die letzte Phase der baulichen Sanierung der Abtei begonnen.
Mit der Erneuerung der Gebäude ging auch eine personelle Erneuerung einher: acht der derzeit zwölf Tholeyer Mönche traten innerhalb der letzten zehn Jahre in das Kloster ein. Der Senior im Konvent ist 73 Jahre alt, der Jüngste erst 22. Einer der Neuen ist Frater Wendelinus Naumann, der vor drei Jahren Benediktiner wurde und zurzeit Theologie studiert. Er ist der Sprecher der Abtei und gewissermaßen die rechte Hand von Abt Mauritius. Wendelinus ist maßgeblich an der Planung und Koordination der Sanierung der Abteikirche beteiligt.
Dem Zufall überlässt er dabei nichts. Über das Projekt spricht er gerne und mit möglichst vielen Leuten. Ihm ist es wichtig, zu sehen, wie die Vorhaben der Mönche bei den Menschen ankommen. Schließlich müsse der Wurm dem Fisch schmecken und nicht dem Angler, bemerkt Wendelinus.
Wer sich mit Frater Wendelinus über die Sanierung der Kirche unterhält, merkt schnell, mit welcher Leidenschaft und mit wie viel Freude er bei der Sache ist. Und mit welcher Akribie. Jedes kleinste Detail wird durchdacht. Das fängt bereits bei den Kirchenbänken an. Die alten Bänke sollen überarbeitet und dunkel gestrichen wiederverwendet werden – aber: mit Kniepolstern. Und: Die Haken, „an denen man sich immer so toll das Knie stoßen konnte“, werden reduziert und neu gestaltet.
Mit gleicher Akkuratesse widmet sich Wendelinus mit dem Konvent der Gestaltung der neuen Kirchenfenster: Wie soll der Heilige Mauritius seinen Märtyrertod erwarten? Zu Boden gekauert? Oder doch heroisch und erhobenen Hauptes? Oder konzentriert und mit gesenktem Kopf? Abt und Konvent entschieden sich für die letzte Variante. Denn: „Das Pathos ist im Schlamm von Verdun gestorben“, formuliert Wendelinus es ausdrucksvoll. Frater Wendelinus möchte, dass sich die Menschen in der Mauritius-Darstellung wiederfinden können. Auch als Heiliger sei es legitim, lieber keinen Märtyrertod erleiden zu wollen, denn selbst Jesus habe gehofft, dass Gott „den Kelch an ihm vorübergehen lässt“. Selbst Jesus habe den Tod nicht heroenhaft entgegengenommen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, rief Jesus am Kreuz. Daher sei es schwer, den Menschen darüber zu erhöhen, so Wendelinus.
Auch für baulich ungünstige Begebenheiten findet Wendelinus Lösungen. Beispielsweise für das zugemauerte Fenster im rechten Seitenschiff, das dem Hauptportal gegenüberliegt. Auch dieses Fenster wird verglast. „Denn es ist ja relativ unangenehm, wenn man reinkommt und dann auf dieses zugemauerte Fenster sieht“, so Wendelinus. Aber wie soll das gehen, fragt man sich. Hinter dem Fenster liegt doch der Lenoir-Bau?!? Kein Problem für Frater Wendelinus: „Sie können es künstlich hinterleuchten mit einer Regeltechnik. Dafür leben wir im Jahr 2018/19.“
Besonders stolz ist Wendelinus auf einen weiteren Geniestreich: Das Westfenster. Dieses große, lange Fenster ist das größte in der ganzen Kirche. Den meisten Besuchern wird es dennoch nie aufgefallen sein. Denn es wird von der Orgelempore samt Orgel verdeckt. Wie soll man so ein Fenster gestalten? Lohnt sich die aufwendige Gestaltung eines Fensters, das man praktisch nie sieht? „Und das ist der Trick! Man muss immer aus der Not eine Tugend machen!“, frohlockt Wendelinus. Das „Tholeyer Teufelchen“, das sich in einem Kapitell des rechten Seitenschiffs versteckt, hat Frater Wendelinus auf die geniale Idee gebracht: Das Westfenster soll den Teufel zeigen. Er ist da, aber er darf nicht das Heil am Altar sehen. Und auch der Priester zelebriert nicht Richtung Teufel, sondern Richtung Orgel.
Künftig wird auf dem langen Westfenster daher der Satans-Sturz dargestellt. Nur wenn man mit dem Kopf im Genick unter der Orgelempore steht, wird man sehen, wie der Teufel vom Himmel runtergestürzt kommt. Der Satans-Sturz wird im Lukas-Evangelium beschrieben und zählt zu Wendelinus‘ Lieblingsstellen in der Bibel. Nach der alten israelitischen Vorstellung war der Satan beim Jüngsten Gericht der Ankläger. „Das Problem an dem Satan war: er machte einen verdammt guten Job. Also, als Staatsanwalt war der unschlagbar“, erzählt Wendelinus. Der Satan zeigte den Menschen ihre Verwerflichkeit auf und sorgte so dafür, dass sie alle verurteilt und verdammt wurden. Durch den Satans-Sturz wird der Teufel aus dem Himmel verbannt. Somit treten die Menschen nur noch vor den barmherzigen Richter Jesus Christus – ein unendlich tröstlicher Gedanke, findet Wendelinus. Ein Detail des neuen Fensters ist ihm besonders wichtig: Der Erzengel Michael verweist den Teufel nicht mit dem Schwert, sondern mit dem Finger aus dem Himmel. Dies soll symbolisieren, dass das Wort stärker ist als die Waffe, und dass die eigentliche Waffe das Wort Gottes ist.
Was Wendelinus „wirklich verblüfft“, ist, wie die Künstlerin Mahbuba Maqsoodi – die mit Ausnahme der drei Richter-Fenster alle neuen Abteifenster gestalten wird – es schafft, seine Worte und Details in Kunst umzusetzen. „Ich selbst kann nämlich so gut wie gar nicht zeichnen“, räumt Wendelinus ein. Auch Singen kann er nach eigenen Angaben nicht sonderlich gut, weshalb er bezweifelt, dass die 60 Euro, die seine Stimmtrainings-Stunde im Rahmen seiner Priesterausbildung kostet, gut angelegt sind. Abt Mauritius ist da anderer Meinung und scherzt: „Und wenn ich 100 Euro zahlen muss, Hauptsache, es wird besser!“
Besonders hoch steigt die Freude von Frater Wendelinus in der nach oben offenen „Richter-Skala“, wenn das Gespräch auf Gerhard Richter und die neuen Chorfenster kommt. Richter gilt als der bedeutendste und erfolgreichste lebende Künstler der Welt. Im „Kunstkompass“, einem Ranking der weltweit gefragtesten Künstler der Gegenwart, belegt er seit Jahren Platz eins. Der britische „Guardian“ bezeichnete Richter als „Picasso des 21. Jahrhunderts“. Die „Bild“-Zeitung nannte ihn den „genialen Alleskönner der modernen Kunst“.
Die Abtei bekam bereits Presseanfragen aus der ganzen Welt. Ob die französische „Le Monde“ oder die US-amerikanische „Washington Post“: Alle möchten wissen, wann es soweit ist. „Sobald der Name Richter fällt – das ist unglaublich“, konstatiert Wendelinus.
Bislang hat der 86-jährige Richter in seinem Leben erst ein Kirchenfenster entworfen: 2007 schuf er das neue Südquerhausfenster des Kölner Doms – der imposantesten Kathedrale der Welt. Das Kölner Richter-Fenster wurde in Kürze – auch wegen der Kritik des damaligen Kölner Erzbischofs Kardinal Meisner – das wohl berühmteste Fenster Deutschlands. Und nun Tholey. Warum Tholey? Auf die Frage aller Fragen hat auch Frater Wendelinus keine Antwort. Er mutmaßt, dass „dieser frühgotische Charme der Kirche“ auch Richter beeindruckt haben wird.
Was Wendelinus berichten kann, ist, wie es dazu kam, dass Richter die neuen Chorfenster der Abtei entwirft.
Der Konvent sei bereits mit der Planung der Fenster fertig gewesen, als ein Tholeyer Kirchgänger ihn im Gespräch darauf hingewiesen habe, dass viele Menschen allein wegen der Chagall-Fenster die Kathedrale in Metz besichtigen würden. „Da habe ich gesagt: Aber Chagall ist tot. Und das schon seit Jahrzehnten. Und dann fragte ich: Was will uns das über Tholey sagen?“, erzählt Frater Wendelinus. Aufgrund der Anregung des anonymen Kirchgängers kam so die Frage auf, welchen Gegenwartskünstler man mit Chagall vergleichen könne. „Und dann habe ich gesagt: Wenn man auf den Weltplan sieht, dann ist das Richter“, so Wendelinus. Auch der Name Markus Lüpertz, der zurzeit für die Hannoveraner Marktkirche das von Gerhard Schröder gestiftete „Luther-Fenster“ mit den umstrittenen Fleischfliegen gestaltet, sei noch gefallen. „Aber Lüpertz im Vergleich zu Richter, da ist der eine Bundeliga und der andere Champions League“, formuliert Wendelinus es anschaulich.
Daher habe die Abtei an Gerhard Richter einen 1,45 €-Brief mit der Anfrage geschrieben, die drei Hauptchorfenster zu entwerfen. „Ich habe gedacht, da kommt nie was raus. Im besten Fall bekommen wir einen Brief zurück“, gesteht Wendelinus.
Bernhard Leonardy, Organist der Basilika St. Johann in Saarbrücken – der seit einer Vertonung eines Photo-Painting-Zyklus von Richter Kontakt zu dem Kölner Künstler hat – habe dann als „guter Bote“ den Kontakt intensiviert. In einer ersten Reaktion sei Richter mit Verweis auf sein Alter und die Größe des Projekts zurückhaltend gewesen. Er habe gesagt, er könne es sich mal überlegen und habe darum gebeten, ihm die Maße der Fenster zu schicken.
Daraufhin habe die Abtei ihm eine CD mit den Maßen aller Abteifenster geschickt. Und in der Rückmeldung habe sich dann herausgestellt, dass Richter vor einigen Jahren an einem Projekt gearbeitet hatte, für dessen Umsetzung Fenster in der Größe der Tholeyer Hauptchorfenster gut geeignet wären. Richter hatte damals eine Alleluia-Komposition des berühmten estnischen Komponisten Arvo Pärt in bildende Kunst umgesetzt. Die Tholeyer Richter-Fenster werden daher visualisierte Musikharmonien darstellen. Die Fenster sollen mittels der Harmonie der Musik sowie der Harmonie der Farben und Formen ausdrücken, dass Gott höchste Harmonie bedeutet. Erste Entwürfe Richters liegen bereits vor.
Bei aller Begeisterung für Richter, die Musik und die neue Orgel ist Frater Wendelinus eines ganz wichtig: „Wir und die Künstler machen das, weil es ein Gotteshaus ist. Es soll weder Konzertraum noch Kunsthalle sein, sondern wirklich lebendiges Gotteshaus.“ Wer die Richter-Fenster bewundere, komme nicht an der Botschaft vorbei, „dass sie inspiriert sind von einem Gottesbild“. Wendelinus hofft, dass den Mönchen die Erfüllung des Auftrags der Verkündigung der christlichen Botschaft mit der Sanierung der Kirche noch besser gelingen wird.