Über die Osterfeiertage widmet sich wndn.de dem christlichen Glauben in einer Interviewserie mit dem Trierer Bischof Stephan Ackermann. In Teil 2 spricht er mit unserem Redakteur Christian Funck über den Schutz des ungeborenen Lebens und die Flüchtlingskrise.
wndn.de: Herr Bischof, der christliche Glaube und das christliche Menschenbild haben unsere Kultur im Allgemeinen und unsere Rechtskultur im Besonderen geprägt: Aus dem christlichem Glauben an einen Schöpfergott hat sich die christliche Naturrechtslehre und Idee der Menschenrechte, also die Idee, dass der Mensch als Geschöpf Gottes von Natur aus Menschenwürde und gewisse unveräußerliche Rechte hat, entwickelt.
Und das Grundgesetz nimmt darauf auch Bezug in seiner Präambel – wie Sie schon gesagt haben: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen hat das deutsche Volk sich dieses Grundgesetz gegeben“. Dieser Gottesbezug ist als Berufung des Grundgesetzes auf das Naturrecht zu verstehen.
Im Grundgesetz ist heute die Menschenwürde festgeschrieben. Wir leben ins einem freiheitlich-demokratischen Rechts- und Sozialstaat. Der Staat und das Bundesverfassungsgericht sichern diese Errungenschaften.
Würden Sie sagen, dass der Glaube oder die Kirche dadurch an seiner gesellschaftlichen Bedeutung verloren haben?
Bischof Stephan Ackermann: Natürlich sind bestimmte Werte und Grundüberzeugungen aus dem reinen Bereich des Glauben und der Kirche hinausgewandert und zum Allgemeingut geworden. Die Würde des Menschen entspringt für uns wesentlich aus der Gottesebenbildlichkeit, hat also einen klaren Bezug zum Schöpfer, aber – und das ist so ähnlich wie beim Kreuz – dieser Gedanke ist nicht im Alleinbesitz der Kirche oder der Christen, sondern ist eingegangen in das Erbe der Menschheit insgesamt, etwa durch die Menschenrechte. Aber der Glaube oder die Kirche verlieren nicht an gesellschaftlicher Bedeutung dadurch, dass andere sich die Werte des Glaubens zu eigen machen.
Worin liegt denn dann die gesellschaftliche Bedeutung des Glaubens heute?
Die Bedeutung des Glaubens zeigt sich zum Beispiel bei der Begründung von Werten, etwa bei Debatten über die Frage nach der Würde des Menschen. Es gibt Leute – etwa Juristen – die sagen, mit dem Würdebegriff könne man eigentlich nichts anfangen, das sei ein schwülstiger Begriff, ein pathetischer Begriff. Der verhindere nur notwendige Diskussionen.
Die Frage ist: Was bedeutet die Rede von der Würde des Menschen? Dafür braucht es Begründungen, Begründungsangebote, etwa aus der Weisheit des Glaubens. Wir sagen zwar: Die Würde des Menschen sei unantastbar, aber sie wird angetastet – etwa die Würde des ungeborenen Lebens. Von der Würde und der Unantastbarkeit zu reden, ist kein Selbstläufer. Ich muss immer wieder begründen, worin die Würde des Menschen liegt. Wem kommt die Würde zu? Auch dem Demenzpatienten?! Wir hören oft den Satz: „Das ist ja menschenunwürdig, das ist doch kein würdiges Leben.“ Da geht`s schon los. Da kann der Glaube helfen, Argumentationen zu finden.
Renommierte Verfassungsrechtler wie Ernst-Wolfgang Böckenförde (von 1983-1996 Richter am Bundesverfassungsgericht) und Udo di Fabio (von 1999-2011 Richter am Bundesverfassungsgericht) vertreten eine Ansicht, die man sinngemäß so zusammenfassen könnte:
„Das Grundgesetz lebt von Voraussetzungen, die es selber nicht garantieren kann. Auch im Grundgesetz fixierte Grundrechte entfalten nur dann praktische Geltung, wenn über deren Schutz und praktische Geltung auch ein gesellschaftlicher Konsens besteht.“ Würden Sie dem zustimmen?
Genau. Deshalb brauche ich eine Bürgergesellschaft; ich brauche eine Zivilgesellschaft und in dieser Zivilgesellschaft spielen z. B. auch die Kirchen eine wichtige Rolle, weil es da um die Wurzeln geht, die aus einer anderen Tiefe kommen, auch einer geschichtlichen Tiefe, als ich das einfach in Recht und Gesetz kodifizieren kann.
Sie haben von der Würde des ungeborenen Lebens gesprochen. Aber in der Praxis gilt dieses Lebensrecht im Hinblick auf 100.000 Abtreibungen jährlich nur eingeschränkt, weil ein gesellschaftlicher Konsens über das Recht auf Leben ungeborener Menschen nicht besteht. Zeigt das, dass das Grundgesetz zwar gewisse Rechte – wie das Recht aller Menschen auf Leben – formal garantiert, aber die praktische Umsetzung nicht garantieren kann?
Das ist richtig. Vor allem geht es um das Recht derjenigen, die ihr Recht nicht durchsetzen können. Das ungeborene Kind kann seine Rechte nicht durchsetzen. Das ist auch eine Kritik der Kirche an der Gesetzgebung, dass diejenigen, die ihr Recht nicht einklagen können, weil sie die Stimme dafür nicht haben, die Verlierer sind.
Ich möchte Ihnen vier Thesen vorlesen und Sie dann fragen, ob Sie diesen zustimmen würden.
1. „Das Grundgesetz verpflichtet den Staat, menschliches Leben, auch das ungeborene, zu schützen. (…) Menschenwürde kommt schon dem ungeborenen menschlichen Leben zu. (…) Dieses Lebensrecht wird nicht erst durch die Annahme seitens der Mutter begründet.“ Ja oder Nein?
Ja.
2. „Die Schutzpflicht für das ungeborene Leben ist bezogen auf das einzelne Leben, nicht nur auf menschliches Leben allgemein. (…)“ Ja oder Nein?
Richtig, ja.
3. „Der Schwangerschaftsabbruch muss für die ganze Dauer der Schwangerschaft grundsätzlich als Unrecht angesehen und demgemäß rechtlich verboten sein. (…)“ Ja oder Nein?
Ja, das ist ja unsere Gesetzeslage, es ist rechtswidrig.
4. „Der Schutzauftrag verpflichtet den Staat ferner, den rechtlichen Schutzanspruch des ungeborenen Lebens im allgemeinen Bewusstsein zu erhalten und zu beleben.“ Ja oder Nein?
Ja.
Was würden Sie meinen, von wem diese Thesen stammen, die ich Ihnen gerade vorgelesen habe?
Ach so, die stammen nicht von Ihnen?!
Nein, die stammen vom Bundesverfassungsgericht. Sie sind den Leitsätzen des 2. Abtreibungsurteils des Bundesverfassungsgerichts vom 28.5.1993 entnommen.
(Bischof schmunzelt.) Dann bin ich ja froh, dass das Bundesverfassungsgericht mit mir einer Meinung ist.
In Deutschland kann man gem. § 218a Abs. 1 StGB in den ersten 12 Wochen der Schwangerschaft de facto problemlos sein Kind töten.
Über 100.000 Mal wird in Deutschland jährlich nach § 218a Abs. 1 StGB eine (rechtswidrige) sog. indikationslose Abtreibung vorgenommen. Die Abtreibung eines behinderten Kindes ist nach § 218a Abs. 2 StGB bis zur Geburt möglich.
Besteht in Deutschland ein allgemeines Bewusstsein für den rechtlichen Schutzanspruch des ungeborenen Lebens?
Nach den neuen Statistiken sind die Abtreibungszahlen zwar wieder gesunken, aber es sind immer noch – wie Sie auch sagen – über 100.000. 100.000 Menschenleben! Was ja immer noch aussteht, ist, dass die damals neue Gesetzgebung evaluiert wird, wie es das Bundesverfassungsgericht gefordert hat. Hier müssen wir den Staat in die Pflicht nehmen!
Nochmals zu Ernst-Wolfgang Böckenförde. Böckenförde war 1993 am Abtreibungsurteil beteiligt und sagt heute:
„Der Staat könnte und müsste mehr tun. Er müsste das Bewusstsein für den Lebensschutz durch Aufklärung und sachhaltige Informationen schon in der Schule wachhalten.“ Für eine gerichtliche Überprüfung der Defizite bei der Umsetzung des vorgeburtlichen Lebensschutz-Konzeptes fehle bei den politischen Akteuren aber der Wille bzw. der Mut.
Würden Sie das von den politischen Akteuren erwarten? Würden Sie z. B. von Bundesjustizminister Heiko Maas, der auch eines Ihrer Schäfchen ist, erwarten, dass er sagt: „Wir machen jetzt eine abstrakte Normenkontrolle beim Bundesverfassungsgericht und überprüfen, ob das derzeitige Lebensschutzkonzept überhaupt verfassungsgemäß ist.“?
Letztlich ist es egal, welcher Minister das ins Werk setzt.
Die Evaluierung der Gesetzeslage steht immer noch aus. Es ist zwar positiv, dass die Zahlen scheinbar seit Jahren sinken. Aber man müsste analysieren, ob es wirklich stimmt und woran es liegt. Und es bleibt eine dauernde Aufgabe, das Bewusstsein für die Würde des ungeborenen Lebens wachzuhalten und zu schärfen.
In der Flüchtlingskrise erleben wir gerade in Ostdeutschland eine ausgeprägte Fremdenfeindlichkeit. In Clausnitz, in Bautzen, bei Pegida und anderswo erleben wir Stimmungsmache gegen Flüchtlinge. Was würden Sie meinen, was ist der Grund für diese Fremdenfeindlichkeit, die ja im Osten viel mehr verbreitet ist als in Westdeutschland.
Ich bin mit der Situation in Ostdeutschland zu wenig vertraut, um mir wirklich ein Urteil erlauben zu können. Aber Experten sagen uns, dass es dort einen bestimmten Prozentsatz an Menschen gibt, die den Eindruck haben, dass sie auch nach der Wende auf der Seite der Verlierer sind. Es ist interessant zu sehen, dass da, wo es viele Flüchtlinge gibt, also da wo die Gesellschaft bunter ist – ob das jetzt in Ballungsgebieten, in Köln oder im Saarland ist – kaum Fremdenfeindlichkeit gibt. Es kommt also darauf an, ob man die Menschen, die zu uns kommen, kennen lernt. Ein Problem ist immer Fremdheit und Distanz. Das scheint zu einer Fremdenfeindlichkeit beizutragen. Aber da wo Menschen sich wirklich begegnen, Kontakt miteinander haben, da sehen wir, dass Fremdenfeindlichkeit gering ist, im günstigsten Fall gar nicht erst aufkommt.
Jan Fleischauer, Spiegel-Online-Kolumnist, schrieb letztlich, der Unterschied zwischen Westdeutschland und Ostdeutschland liege in der „Abwesenheit jedes christlichen Bewusstseins außerhalb des kirchlichen Milieus“ in Ostdeutschland.
Wenn Angela Merkel bei Auftritten für ihren Flüchtlingskurs werbe, indem sie auf das Evangelium verweist und an die christliche Nächstenliebe appelliert, schlage ihr im Osten Unverständnis und Wut entgegen, während sie im Westen die Menschen damit noch erreiche. Würden Sie diese Ansicht teilen?
Ich wäre vorsichtig bei solchen einfachen Antworten. Denn wir hatten das Beispiel mit diesem Pfarrer im Erzbistum München und Freising, in Zorneding, einem sogenannten gut katholischen Gebiet. Es gibt auch in konservativ-kirchlichen Kreisen Formen von Fremdenfeindlichkeit. Das ist erschreckend. Es schreiben mir Leute: „Ich bin ein guter Katholik, seit Jahrzehnten bezahle ich meine Kirchensteuer. Herr Bischof, angeführt von der Kanzlerin verkaufen Sie das Abendland!“ – Das schreiben Leute, die sich als „gut katholisch“ bezeichnen. Deshalb würde ich der Aussage, Menschen, die nicht christlich sind, seien per se fremdenfeindlicher, nicht zustimmen.
Dass nicht-christliche Menschen per se fremdenfeindlicher sind, hat er aber auch nicht gesagt. Jan Fleischauers Beobachtung war vielmehr, dass man einen flüchtlingskritischen Menschen, der aber doch christlich geprägt ist, eher noch damit erreicht, wenn man ihm – bspw. mit Verweis auf christliche Werte – davon zu überzeugen versucht, dass man auch eine Verantwortung für diese fremden Menschen hat, während ein nicht christlich geprägter Mensch mit solchen Begründungen oft nichts anfangen kann.
Ich glaube, das Entscheidende ist, dass Menschen anderen Menschen ins Gesicht schauen – ob ich jetzt gläubig bin oder nicht – und das Menschliche sehen und dem Raum geben. Sehe ich im anderen einen Menschen, der Hilfe braucht? Da gibt es zunächst einmal einen menschlichen Instinkt, der da ist und den hat Gott – das würde ich als gläubiger Mensch natürlich sagen – in uns hineingelegt: sich um den anderen zu kümmern und in solchen Situationen nicht einfach herzlos wegzuschauen. Natürlich hilft der Glaube, der verstärkt das. Aber ich würde keine schematischen Aufteilungen machen.
Wenn aber bspw. in Clausnitz Flüchtlinge „begrüßt“ werden, kommt es auch zum Face to Face und da entwickelt sich dieser Instinkt zu helfen nicht.
Das ist richtig, aber da ist das Vorurteil schon vorhanden. Da gibt es ja gar kein unbelastetes „Face to Face“. Und die Gruppen, die da stehen und den Bus erwarten, wollen den Leuten gar nicht ins Gesicht sehen, sondern lehnen einfach die Sache ab.
Kommen wir nochmal zurück zum Glauben. Sie haben festgestellt, dass der Glaube einerseits erodiert, andererseits aber für den einzelnen Menschen wie auch für die Gesellschaft eine große Bedeutung haben kann bzw. hat. Wie kann man denn den Glauben stärken?
Der Glaube wird vor allen Dingen gestärkt durch Menschen, die glauben. Denn dadurch, dass andere sehen, wie der Glaube gelebt wird, wird er auch gestärkt.
Wie fördert man denn als Kirche, dass es Menschen gibt, die glauben?
Dazu gehört eine gute Einführung in den Glauben derjenigen, die getauft sind. Daran müssen wir wieder stärker arbeiten. Wir dürfen nicht darauf vertrauen, dass jemand katholisch getauft ist und sich dann alles von selbst ergibt. Wir müssen intensiver schauen, wie Menschen in den Glauben hineingeführt werden, d.h. sowohl in das Glaubensbekenntnis, aber auch in die Praxis des Glaubens, das heißt Menschen zu begegnen, die den Glauben leben und mir helfen ihn zu leben.
Zudem braucht Glaube immer auch eine Form von Gemeinschaft. Ich kann nicht alleine glauben. Ich brauche immer die Gemeinschaft der Glaubenden. Ich brauche an meiner Seite Leute, die glauben. Das ist die Bedeutung der Kirche. Dabei kommt es weniger auf die institutionelle Absicherung als auf die Lebendigkeit und die spürbare Nähe an.
Herr Bischof, vielen Dank für das Gespräch!
Ich danke auch!